Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (036-03382)

von Theodor Gartner

an Hugo Schuchardt

Wien

12. 10. 1884

language Deutsch

Schlagwörter: Romanische Studienlanguage Nordostkaukasische Sprachen (nacho-dagestanische Sprachen)language Deutsche Dialektelanguage Spanische Dialekte Mussafia, Adolf Ascoli, Graziadio Isaia

Zitiervorschlag: Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (036-03382). Wien, 12. 10. 1884. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2018). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6538, abgerufen am 18. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6538.


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Verehrter Herr Professor!

Einen Fall von Verknöcherung des Relativums, ungefähr wie Sie kürzlich suchten, finde ich eben im Arch. glott. VIII 236 „i pi an mann bo i ezze“ (io sono un uomo che mangia), wie man nach Cipolla in den Dreizehn Gemeinden sagt. Freilich ist „bo“ = wo (nicht was), und der Nom. „i“ zu dem indecl. „bo“ regelrechte Apposition (Vgl. überdies dt. „der ich …“).1

Es ist mir bis jetzt noch nicht gelungen, Grimms Wtb. einzusehen; sonst würde ich schon längst die Bemerkung gemacht haben, die ich nun endlich auch so mache: dass nämlich im Tschechen- und mitunter auch im Wiener-Deutsch allerdings von der Praep. „bis“ (excl. u. incl.) ein Adv. „bis“ zu unterscheiden sein dürfte. Ein Beispiel: A. „Sind meine Stiefel fertig?“ – B. „Nein; bis morgen.“ Und B. meint (nicht „Warten Sie bis morgen“, sondern) „Erst morgen“ oder schlechtweg „morgen“, wobei dann das „bis“ ganz pleonastisch auf die Zukunft hinweist. Solche Beispiele dürfte Grimm nicht bieten.

Noch bevor ich Gr. Wtb. gesehen habe, an Sie zu schreiben, drängt mich auch eine andere, theilweis persönliche Angelegenheit.

|2| Ich sprach vorgestern zu Mussafia über einen kühnen Plan, mit dem ich eben umgehe, nämlich nach Spanien zu reisen und aus der mindestens sechsmonatlichen Reise zwei Bücher herauszuschneiden: eines von etwa 15 Bogen, worin die castilischen oder vielleicht mehr Volksdialekte beschrieben würden, und ein kleines, spanisches von etwa 5 Bogen, worin eine kleine phonetische u. phonographische Anleitung gegeben und der Madrider Dialekt beschrieben würde, damit die Spanier endlich anfiengen Sprachberichte zu machen. Da sagte mir nun Mussafia, dass auch Sie den Zweck verfolgten, die span. Dialektforschung in Fluss zu bringen, und zwar durch eine andalusische Zeitung. Es versteht sich fast von selbst, was ich somit für Fragen an Sie zu richten habe: Ist mein Vorhaben nunmehr überflüssig? Wenn nein: wie soll ich es anstellen, um naturgemäß fortzubauen, wo Sie aufgehört haben? Wenn ja: Könnten Sie mir ein ähnliches Feld anderswo zeigen?

Wenn ich mir denn schon die Freiheit nehme, Sie um Rathschläge zu bitten, so muss ich – so ungern ich es thue – doch, zur Beurtheilung der persönlichen Seite der Angelegenheit, einige über meine Person sagen. Die Gründe, warum ich im Jahre 1885-6 derlei Studien anstellen will, sind (abgesehen von der selbstverständlichen Freude daran) folgende.

|3| Meine Schulmeisterei macht es mir unmöglich, die vielen (besonders die meinem Geiste etwas fremden litterarischen) Studien zu machen, die mich zur acad. Laufbahn befähigten. Zu der naturwiss. Arbeit der Dialektforschung bin ich dennoch, wie ich glaube, ganz geeignet, jetzt natürlich wieder mehr als vor 2, 3 Jahren. – Im vorigen Schuljahre habe ich mir, vermutlich infolge einer überfüllten Classe (statt Schulzimmer haben wir Wohnzimmer), einen heftigen Katarrh zugezogen, von dem mir ein chronischer Kehlkopfkatarrh zurückgeblieben ist. Im nächsten Jahre (1885-6) steht mir wieder eine überfüllte Classe bevor; wenn ich nun um eine ganze oder halbe Beurlaubung einschreiten soll, so thu ich es natürlich lieber, um eine wissenschaftliche Arbeit zu machen, als krankheitshalber. Wenn ich darum bald ansuche, so dürfte genug Geld da oder ins nächste Budget zu setzen möglich sein, damit ein Supplent bezahlt werden kann. Auch möchte ich deshalb bald im Klaren sein, damit ich Zeit zu vorbereitenden Studien hätte.

Sollten Sie mir andere Mundarten vorschlagen, so bitte ich kein Gebiet zu nennen, worin Ascoli seinen Fuss gesetzt hat; und wenn ich nach Smyrna oder Chili müsste.2

Ihre Antwort kann aus zwei Zeilen bestehen, vielleicht aber – ich kann es nicht wissen – vielleicht möchten Sie mir recht viel sagen; in diesem Falle bitte ich, mir |4| Ort und Stunde anzugeben, damit ich Sie nächsten Sonntag nachm. aufsuchen könnte.

In der Hoffnung, dass Sie auf mich nicht böse sind, weil ich Ihnen so viel Theilnahme an meiner Person zumuthe,

verbleibe ich

Ihr

ergebener

Gartner
Wien, 12. Oct. 84.


1 Francesco Cipolla, „ Dei coloni tedeschi nei XIII Comuni Veronesi “, Archivio glottologico italiano VIII, 1882-5, 161-262; auch Cipolla, Le popolazioni dei XIII comuni veronesi; ricerche storiche sull'appoggio di nuovi documenti, Venedig 1882 (Monumenti storici 4 / 4,2,4).

2 Vgl. dazu seine Richtigstellung an G. I. Ascoli, Romanische Studien 6, 1895, 336 („Zur Abwehr des persönlichen Angriffes, den Ascoli in diesen Tagen gegen mich gerichtet hat“). Gartner wirft Ascoli (Archivio glottologico italiano VII, 1883/84, 564 ) vor, ihn zu Unrecht des Plagiats zu beschuldigen. Seine Richtigstellung steht in Heft XXI der Romanischen Studien, das die Jahreszahl 1885 trägt, aber wohl erst 1895 veröffentlicht wurde. (In diesem Band finden sich weitere Arbeiten Gartners, die bei Plangg / Iliescu, 1887 fehlen: „Die Zehn Alter, eine rätoromanische Bearbeitung aus dem 16. Jh.“, 239-299; „Berichtigungen zu Ulrichs Abdrücken der ersten beiden Evangelien Bifruns und des Katechismus von Bonifaci“, 299-302. Der erwähnte Beitrag „W. v. Humboldt über Rätoromanisches“ muss noch um „Nebst Ungedrucktem von Mtth. Conradi“ ergänzt werden.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 03382)