Anton Bettelheim an Hugo Schuchardt (06-00978)

von Anton Bettelheim

an Hugo Schuchardt

Wien

05. 01. 1886

language Deutsch

Schlagwörter: Sainte-Beuve, Charles Augustin Frankreich

Zitiervorschlag: Anton Bettelheim an Hugo Schuchardt (06-00978). Wien, 05. 01. 1886. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2018). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6442, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6442.


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WIEN, IV., Schwindgasse 3
5.I.86.

Verehrter Herr Professor!

Herzlichen Dank für Ihre freundlichen Zeilen: es ist mir ein wirklicher, schmerzlich empfundener Nachtheil, daß ich Ihre persönlichen Anregungen so gar nicht genießen kann. Von Wiener Fachmännern kenn ich die wenigsten: u. selbst Diejenigen, mit denen ich verkehre, haben nicht viel Interesse für meine Liebhabereien. Ich soll als testamentarisch bestellter Herausgeber des Nachlasses von Berthold Auerbach1 eine Biografie |2| des Dichters geben, eine Arbeit, an welche ich nicht sofort schreiten möchte. Sehr lebhaft denke ich dagegen an eine Charakteristik von Sainte-Beuve, der in Deutschland nicht nach Verdienst gekannt u. auch in Frankreich m. E. ungebührlich vernachlässigt wird.2 Richtig gefaßt, könnte die Studie eine Analyse der französischen Litteratur vom 16.-19. Jahrhundert geben: in dem klaren Geist meines Lieblings spiegelt sich der Werdegang des neueren gallischen Schriftthums vortrefflich. Lebte ich |3| in Graz: ich würde Ihre Meinung über dies Thema u. dessen (naturgemäß von der Beaum.-Biographie grundverschiedene) Behandlung gerne einholen. Vielleicht klopfe ich auch im Frühjahr unversehens bei Ihnen an.

Und auch ein Project bedrängt mich: das größte u. verwegenste: eine deutsche Cervantes-Biographie.3 Allein die braucht noch ganz andre Studien u. Kenntnisse, als all die vorher angedeuteten Entwürfe. Wie Schade, daß Sie nicht in Wien doci-|4| ren: ich würde mehr als ein freies Privatissimum von Ihnen erbitten. Vielleicht sagen Sie mir aber gelegentlich ein Wörtlein über meine Entwürfe: den Sainte-Beuve geb‘ ich fürs Erste kaum auf. Ich denke auch, der Vorarbeiten wegen, demnächst wieder die Pariser Bibliotheken u. Archive, auch StBeuve‘s Freunde (Troubat4 etc.) heimzusuchen. Mit dem Ausdruck herzlicher Verehrung, wie immer

der Ihrige
A.Bm.


1 Berthold Auerbach (1812-1882), deutscher Schriftsteller. Vgl. Bettelheim, Berthold Auerbach. Der Mann. Sein Werk – sein Nachlass. Stuttgart und Berlin: Cotta, 1907.

2 Sainte-Beuve war Bettelheims Vorbild; sein diesbezügliches Buchprojekt blieb unvollendet; vgl. jedoch seinen Aufsatz „ Neue französische Kritiker “, Das Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes. Wochenschrift der Weltlitteratur 57. Jg., N° 17, 256-258. Am 18.3.1886 schreibt Bettelheim an Wilhelm Scherer: „Den denkbar schärfsten Gegensatz zu ihm [=Beaumarchais] bietet er Autor, dessen Wirken mich nun beschäftigt: Sainte-Beuve, ein Génie des Fleißes, der Kritik und Selbstkritik. Gelingt es mir, diesen spröden Vorwurf zu bewältigen, dann verzweifle ich nicht daran, auch eine Biographie Berthold Auerbachs fertig zu bringen, wie ich sie gern schreiben möchte, heute aber schlechterdings noch nicht schreiben kann“ (zit. von Hermann Zeman, „ Wilhelm Scherer (1841-1886) und Österreich “, in: Christoph Fackelmann / Wynfried Kriegleder, Hrsg., Literatur – Geschichte – Österreich. Probleme, Perspektiven und Bausteine einer österreichischen Literaturgeschichte; thematische Festschrift zur Feier des 70. Geburtstags von Herbert Zeman, Wien: LIT, 2011, 119).

3 Auch dies Projekt wurde nicht vollendet.

4 Jules Simon Troubat (1836-1914), letzter Sekretär und Testamentsvollstrecker Sainte-Beuves.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 00978)