Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (081-04080)

von Gustav Gröber

an Hugo Schuchardt

Straßburg

04. 04. 1893

language Deutsch

Schlagwörter: Diakritische Zeichen Kritik Literaturblatt für germanische und romanische Philologie Archiv für lateinische Lexikographie und Grammatiklanguage Vulgärlatein Loth, Joseph Schuchardt, Hugo (1893) Gröber, Gustav (1884)

Zitiervorschlag: Gustav Gröber an Hugo Schuchardt (081-04080). Straßburg, 04. 04. 1893. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5880, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5880.


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[Poststempel: STRASSBURG ELSASS RUPRECHTSAU 4-4-93]1|2|
Lieber Freund.

Gestatten Sie eine Bemerkung zu Ihrer lehrreichen Besprechung des Loth’schen Buches in Neumanns Literaturblatt.2 Sie äußern, daß ich in den Vulgärlat. Substr. den allzu breiten Weg fortgewandelt sei, auf dem Vorgänger Differenzen zwischen sog. vulgärl. Qualität u. Quantität gegenüber schriftlat. Quantität angesetzt hätten. Ich glaube den Vorwurf nicht zu verdienen, da ich mich über die Quantitativen Differenzen zwischen vulgärlat. u. lat. Vocal nicht geäußert habe. Meine „˘“ gegenüber den „¯“ (lange) Zeichen in den Substr. bedeutet Offenheit des Duallautes in Geschlossenheit. Das dem so ist, wird Ihnen die Liste im Schlußartikel des Vulgärlat. Subst. Wölfflins ArchVII,26 zeigen können.3 Daß v st[att] c gewählt wurde, erklärt sich nicht blos aus dem damaligen Gebrauch der Zeichen (1883), sondern auch aus dem Mangel an Lettern wie ę̆, ẹ̆, ę̄, ẹ̄ in der Druckerei. Ich mußte mich also mit ˘ für , und ¯ für . begnügen, und konnte es an jene Stelle, da Latinisten mit den Unterscheidungen ę̆, ẹ̆, ę̄, ẹ̄ doch kaum etwas anzufangen gewußt hätten. In Bezug auf ǫ̆vum bitte ich zB. auch Wölfflin in Arch II 425 florius zu beachten, wo ich ausbedung daß üi wie lat. ōu, ūo zu ǫv (wie lat. ou, wie das lat. kurze o mit offener Qualität). Heute, wo jede Druckerei über ę̄̆ ẹ̄̆ ¯ etc. verfügt, entsteht nur der Schein, ˘ und ¯ seien Quantitätszeichen; ich müßte in jener complicierten Weise für ovum offenes o, würde ich nicht über Quantitätszeichen verfügte, ausdrücken. Es wäre mir lieb, wenn Sie Gelegenheit fänden jene Aeußerung rückgängig zu machen.4

B. Gr.

Ihr

Gröber.

In späteren Bänden des Wölffl. Archivs standen [offenes und geschlossenes] e wenigstens zu Gebote. – Nachträglich möchte ich auch noch auf Wölff. Arch. I 222 verweisen.


1 Dieser Brief und die folgenden beiden Stücke dokumentiert einen seltenen Moment des Dissenses zwischen Gröber und Schuchardt. Letztlich geht es um die komplexe Frage des Übergangs von Vokalquantität im Lateinischen zu Vokalqualität im Vulgärlatein und den romanischen Sprachen.

2 Schuchardt, „[Rez. von:] J. Loth, doyen de la Faculté des lettres de Rennes, lauréat de l’Institut – Les mots latins dans les langues brittoniques (gallois, armoricain, cornique). Phonétique et commentaire avec une introduction sur la romanisation de l'île de Bretagne“, LB f. germ. u. rom. Phil. 14, 1893, 94-105.

3 Gröber, „Vulgärlateinische Substrate romanischer Wörter“, Archiv für lateinische Lexikographie und Grammatik, 7, 1892, 25-64 (es werden nur die Zeichen für Länge und Kürze, nicht für Offen- bzw. Geschlossenheit verwandt).

4 Es dürfte sich einmal um den folgenden Satz von Schuchardts Rez. Loths (Sp. 98) handeln: „Ich komme hier wiederum, aber nicht mit einem ,ceterum censeo‘, sondern im nothwendigen Zusammenhang auf die Absolutheit der Lautgesetze, welche mir kein Postulat der ,ätiologischen Sprachbetrachtung‘ (Gröber), sondern eine Ausgeburt der rein historischen ist, nur ein bequemes Dogma, zu dem, und zwar zur Osthoffschen Formulirung von 1879 sich nun auch Fr. Müller […] sich reuig zu bekennen scheint“.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 04080)