Friedrich Müller an Hugo Schuchardt (09-07579)

von Friedrich Müller

an Hugo Schuchardt

Wien

13. 10. 1895

language Deutsch

Schlagwörter: Reflexion über Forschung Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (Berlin)language Portugiesisch (Rangun)language Südkaukasische (kartwelische) Sprachenlanguage Georgischlanguage Sanskrit Bopp, Franz Kirchhoff, Adolf Wardrop, John Oliver Rost, Reinhold Cust, Robert Needham Steinthal, Hajim Gotha Graz Schuchardt, Hugo (1895) Schuchardt, Hugo (1895) Wolf, Michaela (1993)

Zitiervorschlag: Friedrich Müller an Hugo Schuchardt (09-07579). Wien, 13. 10. 1895. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5758, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5758.


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Wien 13. October 1895.

Hochverehrter Freund und College!

Mein Urtheil über Ihre Abhandlung1 ist keine Schmeichelei; es ist dies meine volle Ueberzeugung. Aber die Georgier dürften über sie ebenso urtheilen wie die classischen Philologen am Anfang und in der Mitte dieses Jahrhunderts über die Leistungen Bopps.2 Sie wissen doch, daß der „große“ Lachmann3 gesagt hat, „er begreife nicht, wie sich Jemand mit einer Sprache beschäftigen kann, die keine |2| Literatur hat“, und der „große“ Haupt4 meinte, als es sich darum handelte, die Stelle Bopps nach dessen Tod zu besetzen, dies sei schädlich. Ich selbst wurde, als ich neben der classischen Philologie mich mit Philosophie und orientalischen Sprachen beschäftigte von meinen Collegen für einen „Bummler“ und „oberflächlichen Kopf“ gehalten.* [* Jetzt noch soll der große Kirchhoff5 in Berlin wenn Jemand in seinem Seminar recht dummes Zeug schwätzt, sagen: „Da könnte man Sprachvergleicher werden!“ Übrigens treten jetzt die Sanskrit-Philologen ganz in die Fußstapfen ihrer classischen Brüder am Eingang dieses Jahrhunderts.] Es ist daher eine förmliche Beleidigung den „gebildeten“ Georgiern zuzumuthen, sie sollen Mingrelisch und Svanisch 6 studiren. Nach meiner Ansicht wäre ein Fortschritt auf diesem Gebiet nur dann |3| möglich wenn 1. ein Georgier sich entschlösse ein umfangreiches Phrasenbuch auszuarbeiten und 2. dasselbe Phrasenbuch ins Mingrelische und Svanische übersetzt würde. Von den „Gelehrten“ ist das nicht zu erwarten.

Über die aramäische Schrift habe ich in den Sitzungsber. 48 und in der Zeitsch. f. K. d. M. II, 245 – IV, 284 – VIII, 155 und 285 gehandelt.7 An der ersten Stelle (Bd. 48) habe ich auch die georgische Schrift in die Untersuchung einbezogen. – Nehmen Sie das Problem in die Hand, vielleicht gelingt es Ihnen etwas Ordentliches herauszubringen* [* vgl. besonders J. Taylor, The Alphabet. (2 voll.)].8

Den Aufsatz, den in der That keine gelehrte Zeitschrift in Europa bringen kann, werde ich Wardrop9 zurückschicken |4| mit der einfachen Motivirung, daß uns europäische Gelehrte das Georgische blos vom Standpunkt der vergleichenden Sprachforschung interessirt, wir daher solche Arbeiten, die vom pädagogischen Standpunkte für die Eingeborenen recht nützlich sein mögen, nicht brauchen können.

Rost’s10 Verhältniße kenne ich schon lange, weiß aber nicht den Grund. Ich dachte er lebt bei seinem Schwiegersohn, der ein [unleserlich] reicher Mann sein soll. – Könnte man nicht bei R. N. Cust11 anfragen?

Mit besten Grüßen

Ihr ganz ergebener

F Müller

NB wie kommt es, daß Steinthal,12 einer der bedeutendsten Köpfe der Berliner Universität, nicht Mitglied der Berliner Akademie ist, während manch alter A-B-C-Schütze zur Würde eines Akademikers erhoben wird?

|5| P.S. Bald hätte ich eine wichtige Angelegenheit ganz vergessen. Herr O. Wardrop13 schickte mir die englische Übersetzung einer Studie von Dodašwili14 mit dem Ersuchen dieselbe in der Wiener Zeitsch. f. d. Kunde des Morgenlandes zu veröffentlichen, falls ich sie der Veröffentlichung werth finde. Ich habe die Arbeit gelesen kann sie aber in dieser höchst wirren Form nicht bringen. – Ich mache ihm den Vorschlag den Aufsatz umzuarbeiten und das wissenschaftlich Brauchbare zusammenzufassen. Wohin soll ich Ihnen |6| den Aufsatz schicken – nach Gotha oder nach Graz?


1 Schuchardt, „ Über den passiven Charakter des Transitivs in den kaukasischen Sprachen", SB d. Wien. Akad. d. Wiss. 133, I, 1895, 1-91 (vgl. Lfd.Nr. 08-07578); man könnte zwar auch an Schuchardt, Über das Georgische, Wien 1895, denken, aber der vorliegende Brief folgt unmittelbar auf den vorangehenden.

2 Franz Bopp (1791-1867), deutscher Sprachwissenschaftler und Sanskrit-Forscher.

3 Karl Lachmann (1793-1851), deutscher Germanist und Altphilologe, Begründer der wissenschaftlichen Textkritik.

4 Moritz Haupt (1808-1874), deutscher klass. Philologe und Germanist.

5 Adolf Kirchhoff (1826-1908), Klass. Philologe in Berlin, seit 1865 Nachfolger August Böckhs.

6 Südkaukasische Sprachen; heute meist „ Swanisch“ geschrieben.

7 Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes.

8 Isaac Taylor, The Alphabet, an account of the origin and development of letters, London 1883.

9 John Oliver Wardrop (1864-1948), britischer Diplomat, erster Chief Commissioner für den Transkaukasus in Georgien, Übersetzer und Gelehrter, Vf. von The Kingdom of Georgia (1888).

10 Reinhold Rost (1822-1896), geboren in Eisenberg (Sachsen-Altenburg), Bibliothekar und Orientalist, der nach England ausgewandert und zuletzt im India Office tätig war. Durch langwierige Krankheiten in seiner Familie war er in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Vgl. auch die Briefe von Josef Priebsch an Schuchardt aus diesem Jahr.

11 Robert Needham Cust (1821-1909), Britischer Verwaltungsbeamter, anglikanischer Prediger und Sprachforscher; von Wolf, Hugo Schuchardts Nachlaß, 150 fälschlich als Robert Curt gelesen; er war Briefpartner Schuchardts in London. Der Grund der an ihn zu richtenden Anfrage ist unbekannt.

12 Chajim Heymann Steinthal (1823-1899), Sprachphilosoph und Sprachwissenschaftler, Doz. a. d. Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.

13 Sollte Müller vergessen haben, dass er Wardrops Einsendung bereits thematisiert hatte?

14 Salomon Dodaschwili (1805-1836), georgischer Philosoph, Lehrer, Journalist und Belletrist.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 07579)