Hugo Schuchardt an Theodor Mommsen (02-HS_TM_s.n.)

von Hugo Schuchardt

an Theodor Mommsen

Gotha

14. 01. 1872

language Deutsch

Schlagwörter: Dialekte Kritik Bittschreiben Saggi ladini Universität Straßburg Roggenbach, Franz von Corssen, Wilhelm Diez, Friedrich Mussafia, Adolf Ascoli, Graziadio Isaia Bonn Mailand Corssen, Wilhelm (1858–1859) Ascoli, Graziadio Isaia (1873) Schuchardt, Hugo (1866)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Theodor Mommsen (02-HS_TM_s.n.). Gotha, 14. 01. 1872. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5301, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5301.


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Gotha 14 Jan. 1872.

Hochverehrter Herr Professor!

Da ich höre, daß Herr von Roggenbach1 viel auf Ihren Rath gibt, wage ich es, Ihnen eine Bitte vorzutragen. Es wäre möglich, daß Herr von Roggenbach Sie über den Werth meines ,Vokalismus des Vulgärlateins‘ befrüge. Würden Sie darüber nicht allzu Ungünstiges sagen? Ich selbst glaube die großen Mängel und Fehler dieses Buches vollkommen zu kennen und werde keinen davon abläugnen. Es kommt aber nur darauf an, wie stark man sie hervorhebt. Allerdings wäre es z.B. besser gewesen, ich hätte nur aus zuverlässigen Inschriftenquellen geschöpft; aber wenn ich dies nicht that, so war ich mir darum nicht minder des außerordentlichen Werthunterschiedes der Quellen bewußt. Nur war mein Plan ein verkehrter, nämlich der (es ist aus der Vorrede klar ersichtlich), ein möglichst voll- |2| ständiges Repertorium nicht nur solcher urkundlichen Schreibungen zu geben, welche in linguistischen Fragen wirklich Berücksichtigung verdienten, sondern auch solcher, die dabei überhaupt angeführt worden waren oder irgend angeführt werden könnten. Sie werden schwerlich finden, daß ich nur auf schlecht Verbürgtes hin eine sprachliche Thatsache zu begründen versucht habe. Daß aber die Anlage eines im zwanzigsten Jahre begonnenen weitschichtigen Werkes, bei dem weder Freund noch Lehrer Rath ertheilten, eine zum Theil verfehlte ist, wird weniger Wunder nehmen, als es das Gegentheil thun würde. Auch im Einzelnen habe ich mich begreiflicherweise zu manchen Malen vergangen, doch bei weitem nicht so oft, als Corssen2 glauben machen könnte. Unter den vielfachen Fällen, in denen er gegen mich polemisirt, sind einige, in welchen ich ihm Recht gebe; meistens aber hat er entweder in der Sache selbst oder (und dies auf höchst befremdliche Art) in dem Verständniß und in der Auffassung meiner Ansichten, ebenso wie derer von Andern, geirrt. Ohne übrigens die bedeutenden Verdienste Corssen’s zu verkennen, darf ich wohl behaupten, |3| daß er die Entwickelung der romanischen Sprachen aus dem Latein in ganz falschem Lichte erblickt. Ich habe bisher noch keine Gelegenheit genommen, diese Streitpunkte öffentlich zu erörtern, da hierbei zu wenig neue Thatsachen in’s Feld zu führen sind; werde dies aber doch wohl nächstens noch thun. –

Sollte Herr von Roggenbach weitere Referenzen über mich wünschen, so wäre auf die drei bedeutendsten Autoritäten für romanische Linguistik zu verweisen, Diez in Bonn, Mussafia in Wien, Ascoli in Mailand (dessen eigene bedeutendste Leistung auf diesem Gebiete, die Saggi ladini,3 allerdings noch nicht der Öffentlichkeit übergeben sind). Weniger möchte ich mich zur Empfehlung auf den anderen Eponymus4 meines Buches berufen; er hat es übel vermerkt, daß ich ihn zu wenig citirt habe, und mir dies als Ainzigen5 Artikel seines Urtheils kund gegeben.

Indem ich Sie, hochverehrter Herr Professor, wegen der Behelligung mit meinen persönlichen Interessen um Entschuldigung bitte, bin ich in vollkommener Hochachtung

Ihr ergebenster
Hugo Schuchardt.


1 Franz Freiherr von Roggenbach (1825-1907), badischer Politiker mit guten Beziehungen zur großherzoglich-badischen Familie und dem preußischen Kaiserhaus, weshalb er zum Leiter der Kommission zur Neugründung der vom Reichstag am 25.5.1871 beschlossenen Straßburger Universität berufen wurde.

2 Zur Kritik des Altphilologen Wilhelm Corssen (1868-70) in der 2. Ausg. seines Buchs Über Aussprache, Vokalismus und Betonung der lateinischen Sprache I, II. Leipzig 1870 vgl. Schuchardts Brief an August Friedrich Pott vom 16.9.1872 (HSA, 01-Yi_r_I_S_1221).

3 Ascoli, Saggi ladini, Rom-Torino-Firenze 1873.

4 Gemeint ist Ritschl, dem neben DiezDer Vokalismus dediziert ist (daher „Eponym“); vgl. auch den bereits zit. Brief vom 19.3.1866: „Wenn Sie voraussetzen, daß ich über abweichende Meinungen, die Sie gegen mich geltend machten, nicht empfindlich sein werde, so kennen und beurtheilen Sie mich sehr richtig. Übrigens ist mir beim ersten flüchtigen Durchblättern noch nicht einmal etwas der Art aufgestoßen, so wie ich das auch, ehrlich gestanden, nach Ihrer lateinischen Abhandlung kaum erwartete. Nämlich insofern nicht, als ich bei deren genauerer Durchlesung vielmehr im Gegentheil fand, daß Sie ziemlich zahlreiche Erörterungen über sprachgeschichtliche Punkte, wie sie sich bei verschiedensten Gelegenheiten im Laufe mancher Jahre gegeben, entweder nicht kannten oder absichtlich ignorirten, obgleich mir doch schien (und scheint), daß nicht wenige Erscheinungen, für die meist auf andere verwiesen zu werden pflegt, zuerst von mir in dasjenige Licht gestellt worden seien, dem eine mehr oder weniger allgemeine Zustimmung – oder doch Anerkennung der eigentlich Sachverständigen und Stimmberechtigten zu Theil geworden ist. Und darum, will ich gestehen, hatte auch Ihre freundliche Dedicationsabsicht etwas Überraschendes für mich“.

5 Gelegentlich vorkommende ältere Schreibweise.

Faksimiles: Die Verwendung der Abschrift des vorliegenden Materials im „Hugo Schuchardt Archiv“ wurde von der Staatsbibliothek zu Berlin gestattet. Eine Vervielfältigung durch Dritte ist nicht erlaubt. (Sig. HS_TM_s.n.)