Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (096-SG22)

von Hugo Schuchardt

an Henri Gaidoz

Graz

31. 12. 1898

language Deutsch

Schlagwörter: Nationalismus Grazer Tagespost Neue Freie Presse Budapesti Hírlap Hugo-Schuchardt-Brevier Dreyfus-Affäre Grazer Tagblatt Welter, Hubert Schuchardt, Hugo (1899) Schuchardt, Hugo (1898)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Henri Gaidoz (096-SG22). Graz, 31. 12. 1898. Hrsg. von Magdalena Rattey (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5256, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5256.


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Graz, 31 Dez 1898

Verehrter Herr,

Ich schulde Ihnen Antwort auf zwei Briefe nebst verschiedenen Sendungen, und ich will die Antwort nicht länger hinausschieben, obwohl ich jetzt bis über die Ohren in einer linguistischen Arbeit1 stecke, die ich in den letzten Jahren ich weiss nicht wie oft habe abbrechen müssen und die ich mit einer Art von Verzweiflung irgendwie zum Abschluss bringen möchte. Meine nervöse Konstitution lässt mich aber immer während einer gewissen Zeit erfolgreich nur mit Einem beschäftigt sein. Später denke |2| ich mich wieder den glossomachischen Studien zuzuwenden; insbesondere möchte ich dazu beitragen dass ein ganz überflüssig geschaffener Gegensatz zwischen den Deutschen und Italienern in Tirol beseitigt werde. Hier haben die Einen wirklich gegen die Andern keine natürlichen und wesentlichen Interessen zu vertheidigen; da haben wir vielmehr nur den muthwilligen Sport des Chauvinismus von beiden Seiten festzustellen, und ich hoffe, im Anschluss an Rohmeders Schrift (Das deutsche Volkstum und die deutsche Schule in Südtirol), 2  meinen Landsleuten Einiges zu beherzigen und zu erwägen zu geben. Derselbe Rohmeder hat übrigens kürzlich, gelegentlich der Honterus-feier über die Siebenbürger Sachsen eine andere Schrift3 veröffentlicht, die in Ungarn verboten worden ist. - Das rein Politische gewinnt mir kein tieferes Interesse ab, und über die so verwickelten Einzelheiten der östreichisch-ungarischen Ausgleichsangelegenheit bin ich recht |3| schlecht unterrichtet. Ich lese für gewöhnlich nur drei Zeitungen (und flüchtig genug), bei mir die Grazer Tagespost4 und den Budapesti Hírlap5 und im Hôtel bei meinem einsamen Dîner die Wiener Neue Freie Presse6 vom vorhergehenden Tag. Von der ersten Zeitung kann ich Ihnen schicken so viel Sie wollen, nur haben wir hier einen „embarras de richesse" - ich möchte doch genauer bestimmt haben woran Ihnen liegt, denn es wird Ihnen weder auf ganz allgemeine, längst Bekanntes nur in andrer Form wieder aufwärmende Artikel ankommen, noch auf Darstellungen des Guerrillakrieges. Auch wenn es sich um Anderes, bestimmte Nummern andrer Zeitungen oder Brochüren handelt, bin ich gern bereit Ihnen zu dienen. Ich selbst habe sehr viel gesammelt, aber sehe nun ein dass das über einen gewissen Punkt hinaus, zwecklos ist, ich möchte mich in eine ganz wissenschaftliche Betrachtung der Dinge flüchten - denn |4| es ermüdet und widert Einen an, diesen bellum omnium contra omnes (und auch innerhalb der Deutschen Oestreichs selbst) in allen seinen Phasen zu verfolgen. Überall herrscht nationale Unzufriedenheit, auch bei den Magyaren; sie sehen ein dass sie keine gesicherte Stellung inne haben. Ein Leitartikel, den ich in diesen Tagen im B.H. las: „Der Magyare im Strome der Völker“ hat mich mit ihrer Tyrannei beinahe ausgesöhnt.

Ich bin Ihnen ausserordentlich dafür verbunden dass Sie sich meiner Broschüre angenommen haben. Den Artikel des Barons Avril habe ich nicht zu Gesicht bekommen; wollen Sie die Güte haben mir ihn zu schicken, oder, falls Sie Ihr Exemplar nicht entbehren wollen, Hubert Welter7 mit einer Karte zu ersuchen, mir die betreffende Nummer der betreffenden Zeitschrift (Sie haben sie nicht angegeben) zukommen zu lassen?8 Ich stehe ja in Abrechnung mit ihm.

In einer Beziehung sind Sie |5| doch von der tschechischen Auffassung beeinflusst; Sie sprechen von den Tschechen und Deutschen in Böhmen (statt in Oestreich) und stellen sie in Parallele zu den Wallonen und Flamländern Belgiens.9 Belgien ist ein eigener Staat, Böhmen nicht. Zudem haben wir die tschechische Frage (ich meine hier nur die sprachliche) ja auch in Niederöstreich, vor Allem in Wien. Sie mag gelöst werden wie immer sie wolle, auf Grund der Anerkennung eines böhmischen Staatsrechtes - das wiederhole ich - ist eine dauernde Lösung ganz undenkbar.

Ich hätte noch Manches Ihnen auf Ihre Bemerkungen zu sagen, insbesondere was Frankreich anlangt, für das ich, wie Sie wissen, immer die grösste Sympathie hege. Die Zeit fehlt mir aber augenblicklich dazu. Sie wissen dass die Sylvesterträume in unserer Feuilletonlitteratur eine grosse Rolle spielen. Ich gebe Ihnen den Rahmen eines solchen; mögen Sie den Traum ausspinnen. |6| Deutschland liege da wo Russland liegt, und Russland da wo Deutschland; sonst sei alles wie es ist. Welches wäre wohl Frankreichs bester Freund, mit welchem hätte es – auch ganz von der Politik abgesehen – die innigsten, vielseitigsten Beziehungen?

Herzlichste Wünsche für Sie und für Ihr Land, das - wider alles Hoffen und Erwarten - auch in diesem Jahre mit der Dreyfus-sache nicht fertig geworden ist. 10

Ganz der Ihrige

Hugo Schuchardt

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1 Im Brief vom 26. März 1899 ( 108-SG28) schreibt Schuchardt, dass er nun mit einer „grösseren Arbeit“ fertig sei. Womöglich handelt es sich bei dieser „linguistischen Arbeit“ um dieselbe. Da Romanische Etymologieen II die größte Publikation im Jahr 1899 darstellt, ist anzunehmen, dass diese gemeint ist. (Vgl. Schuchardt, Hugo. 1899. ' Romanische Etymologieen II'. In Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wien 141: 1-122. [Archiv-/Breviernummer : 335]).

2 Wilhelm Rohmeder (1843-1930) war Lehrer, Schulrat und Schriftsteller; zeitweise fungierte er als Leiter sämtlicher städtischer Schulen Münchens und hatte Beziehungen zum Allgemeinen Deutschen Schulverein zur Erhaltung des Deutschtums im Auslande (der heutige Verein für deutsche Kulturbeziehungen Deutschland). (Vgl. Katalog der Deutschen Nationalbibliothek). Das deutsche Volkstum und die deutsche Schule in Südtirol von Wilhem Rohmeder erschien 1898 im Verlag von Carl Graeser in Wien.

3 Rohmeder, Wilhelm. 1898. Aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Siebenbürger Sachsen: Festrede bei der öffentlichen Versammlung des Allgemeinen Deutschen Schulvereins in Lübeck am 31. Mai 1898. Berlin: Stankiewcz.

4 Die Grazer Tagespost, eine deutschfreiheitliche Traditionszeitung (vgl. Höbelt 2006: 1863), gegründet 1856 unter dem Namen Grazer Tagespost, erschien bei der Druckerei- und Verlags- A.G. Leykam. Sie erreichte 1869 den Status der größten steirischen Tageszeitung. Während noch in den Achtzigerjahren die Auflagenanzahl stieg, war die Herausgabe der Tagespost ab 1891 von einem Auflagenrückgang gekennzeichnet, dies war besonders durch die Konkurrenz des neugegründeten Grazer Tagblatt bedingt. Ab Mitte der Neunzigerjahre erlebte die Tagespost wieder eine Konjunktur: es wurde der höchste Auflagenstand seit ihrer Gründung verzeichnet (vgl. Wolf-Lassnig 1982: 57 ff.; Entwicklung der Grazer Tagespost von 1890-1900). Die 1951 gegründete Süd-Ost Tagespost , hervorgehend aus dem Steirerblatt, stand in der Tradition der GrazerTagespost.

5 Budapesti Hírlap galt als politisch-unabhängige Tageszeitung, die sich 1881 von Pesti Hírlap abspaltete. 1896 zählte sie als erste Tageszeitung Ungarns 30.000 Auflagen (vgl. Buzinkay 2006: 1959 ). Buzinkay befindet: „1905/1906 entwickelte sie sich zum führenden Sprachrohr der der Regierung oppositionell gegenüberstehenden Koalition des ‚nationalen Widerstandes’ (...)“. Wobei sie betont, dass Jenő Rákosi (1842-1929), der Mitbegründer und Chefredakteur der Zeitung von 1891-1925, die unabhängige Linie zu verfolgen pflegte (vgl. ebd.), neben dem Streben einer Hegemonie Ungarns innerhalb der Monarchie (vgl. ÖBL 8 1983: 402f.).

6 Die Neue Freie Presse(NFP), eine liberale Tageszeitung mit Sitz in Wien, erschien von 1864-1939. Sie war „Weltblatt“ der Monarchie, richtete also den Fokus auf gesamtösterreichische Ereignisse. Während der tschechisch-deutschen Ausgleichsbemühungen der neunziger Jahre propagierte das Blatt eine Zusammenarbeit zwischen Tschechen und Deutschen, dies mit der Begründung die deutsche Sprache und Kultur seien fortschrittlich und höherstehend (vgl. Ehrenpreis 2006: 1733-1753).

7 Pariser Verleger, bei dem auch Schuchardts Tchèques et Allemands verlegt wurde; siehe Brief vom 17. Mai 1898, Gaidoz an Schuchardt.

8 Siehe Brief vom 7. Jänner 1899 (097-SG23) Schuchardt bedankt sich bei Gaidoz für den Erhalt der Rezension; für Angaben zur Rezension siehe FN [1] .

9 Siehe dazu Brief vom 11. Dezember 1898 (093-03284), wo Gaidoz hinsichtlich der „‚parité des langues“ Belgien als Beispiel heranzieht.

10 Die Dreyfus-Affäre dauerte von 1894-1906 (beginnend mit der Anklage des französischen Artillerie-Hauptmanns Alfred Dreifuß, endend mit seiner anerkannten Unschuld im Jahr 1906). Im September 1899 wurde Dreyfus, ein frz. Offizier jüd. Abstammung, 1894 als Spion für das Deutsche Kaiserreich verdächtigt und verurteilt, durch das Engagement seines Bruders Mathieu Dreyfus und den Einfluss des republikanischen Premierministers Waldeck-Rousseau, der u.a. die Freilassung in die Wege leitete, begnadigt. Insgesamt wurde Dreyfus zweimal schuldig gesprochen, und zwar 1894 und 1899. Damit die Begnadigung durchgeführt werden konnte, musste der Angeklagte den zuvor erhobenen Einspruch (1899) zurücknehmen, da das Urteil sonst nicht rechtskräftig gewesen wäre. Die unterschiedlichen Ansichten der dreyfusards und anti-dreyfusards dominierten den Inhalt der französischen Zeitungen. Ein berühmtes Beispiel ist der am 13. Jänner 1898 in L’Aurore veröffentlichte Artikel Lettre à M. Félix Faure, président de la République, erschienen unter dem von Clemenceau ausgewählten Titel J’accuse von Zola (vgl. Duclert, Vincent. 2006. Alfred Dreyfus. L'honneur d'un patriote . Paris: Fayard, hier 596f.).

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Fondo Lacombe (Euskaltzaindia). (Sig. SG22)