Hugo Schuchardt an Karl Luick (07-275/30-6)

von Hugo Schuchardt

an Karl Luick

Unbekannt

Unbekannt

language Deutsch

Schlagwörter: Meringer, Rudolf Martinak, Eduard Rollett, Alexander Exner, Sigmund von Mayer, Karl/Meringer, Rudolf (1896)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Karl Luick (07-275/30-6). Unbekannt. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5085, abgerufen am 16. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5085.


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[nicht datiert, vermutlich nach März 1900 und vor Oktober 1903]

Unter vier Augen!1

Lieber Freund,

Du warst gestern bei M.2, M. war gestern bei mir und verfehlte mich, ich traf ihn dann zu Hause, konnte mich aber da er bald in die Vorlesung musste, nicht eingehend mit ihm besprechen, und so bin ich auch über die Motive aus welchen die Umänderung seines Titels erfolgt ist, nicht ins Klare gesetzt worden. Ich denke sie ist erfolgt: „weil es so besser zieht“. Da ich durchaus kein Formalist bin, so würde ich auf die Eigenmächtigkeit die in diesem Verfahren liegt, kein besonderes Gewicht legen wenn sich nicht daraus sachliche Folgen ergäben. Der Vortrag |2| mag ausfallen wie er will, in seinem Umfang entspricht er keinesfalls dem gewählten Titel und muss so eine Enttäuschung hervorrufen wie die gestern von mir erwähnten. Ich glaube nicht dass die Mediziner etwas Neues erfahren werden; wir können uns aber doch nicht auf den einseitigen Standpunkt stellen, uns von ihnen belehren zu lassen, wir müssen auch Ihnen etwas bieten. Wir müssen überhaupt uns ganz klar darüber werden was wir bezwecken, es ist doch kein Unternehmen wie das Arrangement eines Künstlerfestes bei dem man sagen kann: „nur Muth, es wird schon gehen!“, sondern wir wünschen die Wissenschaft sei es in uns, sei es bei Andern in ruhiger und sicherer Weise zu fördern. Die Beziehungen zwischen Sprachpathologie und Sprachwissenschaft verdienen in meinen Augen die gründ- |3| lichste und sorgfältigste Erörterung.3 Aber es ist Vorbereitung dazu nöthig; und – um nur von mir der ich mich früher mit diesen Dingen sehr beschäftigt habe, zu reden – bin augenblicklich gar nicht genügend vorbereitet. Ich habe nicht einmal Zeit gefunden, diejenige Schrift welche – wie sich erst später herausgestellt hat – M. als einzige oder hauptsächliche Vorlage benutzen will, mir zu verschaffen und zu studiren. Ich würde mir die Sache so gedacht haben. Wir tragen zunächst die ganze bezügliche Litteratur der beiden letzten Jahre zusammen, und verständigen uns vorläufig untereinander darüber, insbesondere Martinak4, M. und ich, um dann den Medizinern diejenigen Punkte vorzulegen, welche sich zur Diskussion eignen. Um Popularisirung desjenigen was man über |4| Gehirnlokalisation, mit besonderer Beziehung auf die Sprache, weiss, kann es sich doch in unserem Falle nicht handeln.

(Ich komme nun zum Praktischen). Es ist mir sehr unangenehm dass Rollett5 eine Einladung erhalten hat und es würde mir noch unangenehmer sein wenn er ihr Folge leistete. Er muss denken dass ich der Mitunterzeichnete das veranlasst habe da ich ihn seit so langer Zeit kenne, im Jahre 1881 auch bei ihm im physiologischen Institut – in Lautkurven – gearbeitet und seither ihn besonders in der morphologischen Gesellschaft vortragen und diskutiren gehört habe.6 Man kann einen so bedeutenden Mann, der noch dazu schon hoch bei Jahren ist, nicht ohne Weiteres behelligen; M., |5| in seiner Devil-may-care-manier beurtheilt ihn einfach nach dem Wiener Fachcollegen Sigm. Exner7. Mir machte es schon einen etwas unbehaglichen Eindruck, daß sich Zoth8 schriftlich für die Einladung bedankte u. zu kommen verhieß.

Zweitens. Ich habe denk‘ ich meine Betheiligung an der Wirksamkeit im weiteren Kreis nur mit allen möglichen Kautelen zugesagt, und mich insbesondere nur zu ein paar Worten der Begrüssung verstanden. Aber damit würde es nun nach dem pompösen Titel des ersten Vortrags nichts sein und ich kann eine Leistung die damit in Einklang stände, |6| nicht übernehmen (auch dass die „Begrüssung“ ausdrücklich auf die Karte gekommen ist, war nicht nach meinem Geschmack).

-  -  - Deine eben eintreffende Karte überhebt mich weiterer Auseinandersetzungen – sie wirkt wahrhaft erlösend. Ich möchte nun vorschlagen:

1) Alle Eingeladenen zu verständigen dass wegen der Senatssitzung der sprachw. Abend am Montag nicht stattfinden kann und bis auf weiteres aufgeschoben wird.

2) Wir sollten dann zuerst einmal uns wieder bei mir treffen; ich würde mich über die Materie (Sprach- |7| pathologie) wieder einigermassen zu orientieren suchen, auch Martinak dazu anregen, und Meringer würde uns dann ganz kurz, skeletartig den Gang seines Vortrags auseinandersetzen, sodass schliesslich wir Sprachforscher – viribus unitis – uns den Medizinern gegenüberstellen könnten.

In allergrösster Eile – die Marie wartet um den Brief mitzunehmen

Dein
HSch.


1 Der Brief wurde nicht auf dem Postweg, sondern durch Schuchardts Haushälterin zugestellt.

2 Rudolf Meringer (1859-1931), mit dem Schuchardt zunächst zusammenarbeitete, bis es 1911 zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen beiden über den Primat der Verbindung von Wort- und Sachforschung kam; bereits im vorliegenden Brief deuten sich Irritationen oder gar Spannungen zwischen beiden an.

3 Es ist anzunehmen, daß Schuchardt sich auf Meringers Arbeiten zu Versprechern bezieht, einem Thema, zu dem Meringer schon publiziert hatte und auch noch publizieren wird, z.B.  Rudolf Meringer / Karl Mayer, Versprechen und Verlesen. Eine Psychologisch-lingustische Studien, Berlin 1895. Im Vorwort zu dieser Schrift thematisiert Meringer das Zusammenwirken von Sprachwissenschaft und Medizin: „Es handelte sich mir darum, den Naturforschern zu zeigen, welcher Art die uns beschäftigenden Thatsachen sind und sie so in den Stand zu setzen, uns von ihrer Seite zu Hilfe zu kommen. Man muß sich hüten, den Sprachfehler als etwas Pathologisches aufzufassen. Beim Sprechfehler versagt nur die Aufmerksamkeit, die Maschine läuft ohne Wächter, sich selbst überlassen. Und was den Sprechfehler für die Sprachwissenschaft lehrreich macht, ist der Umstand, daß das Uhrwerk in solchen Augenblicken des Mantels entkleidet scheint und ein Blick in die Räder möglich ist“ (S. VII). Mit diesen Arbeiten Meringers hat sich auch Freud in dem 1904 erschienenen Werk Psychopathologie des Alltagslebens eingehend auseinanergesetzt. Dieses oder ein vergleichbares Thema war also durchaus für einen interdisziplinären Austausch mit naturwissenschaftlichen Kollegen geeignet. Ausgangsfrage Meringers war der Prozess der Dissimilation. Aktuell hat sich auch z.B. W. Levelt mit Meringers Arbeit in seinem Band " A history of psycholinguistics: the pre-Chomskyan era " (2013, Oxford UP) beschäftigt.

4 Eduard Martinak (1859-1943), Pädagoge und Psychologe, ab 1904 Professor in Graz, wo er sich 1894 habilitiert hatte.

5 Alexander Rollett (1835-1903), bedeutender Physiologe, seit 1863 Prof. in Graz.

6 Daß Schuchardt mit den Grazer Medizinkollegen bereits 1881 physiologisch-linguistische Experimente gemacht hat, berichtet er detailliert viele Jahre später z.B. Urquijo in einem Brief vom 5. Oktober 1911.

7 Sigmund / Siegmund Exner-Ewarten (1846-1926), bekannter Physiologe, seit 1891 Wiener Ordinarius.

8 Oskar Zoth (1864-1933), Schüler Rolletts, Professor in Innsbruck, 1904 sein Grazer Nachfolger.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek. Siehe: [Portal]/Österreichische Nationalbibliothek, "Korrespondenz Schuchardt, Hugo, 1842-1927 [VerfasserIn] ; Luick, Karl, 1865-1935 [AdressatIn]" (Sig. 275/30)