Herbert Steiner an Hugo Schuchardt (11-11242)

von Herbert Steiner

an Hugo Schuchardt

Vorarlberg

22. 11. 1920

language Deutsch

Schlagwörter: Erster Weltkrieg Universität Graz Neue Zürcher Zeitung Spitzer, Leo Vossler, Karl Jud, Jakob Czermak, Wilhelm Schuchardt, Hugo (1919) Schuchardt, Hugo (1920) Steiner, Herbert (1922)

Zitiervorschlag: Herbert Steiner an Hugo Schuchardt (11-11242). Vorarlberg, 22. 11. 1920. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4659, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4659.


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Goetzis (Vorarlberg) 22. Nov. 1920

Hochverehrter Herr Hofrat!

Beschämt und mit dem Gefühl, recht undankbar zu erscheinen, komme ich heute, Ihnen – um Monate zu spät – für die gütige Saroïhandy= und Morgensternseparata zu danken1. Zwischen dieser Sendung und heute liegen für mich mehrere Reisen, die Übersiedlung meiner Eltern mit unserem Haushalt von Wien hierher und die heutigentags umständliche Instandsetzung unseres kleinen Hauses hier.2 Seit Ostern waren alle meine Sachen verpackt und erst dieser Tage habe ich, mich kopfüber in eine Kiste stürzend, alle Ihre Karten und Separata wieder entdeckt und mit Freude und erneutem Dank begrüsst. Verzeihen Sie also meine Unhöflichkeit und entziehen Sie mir nicht Ihr Wohlwollen!

Welche Bitte sich auch darauf bezieht, daß ich Ihnen mit einer kleinlichen bibliographischen Notiz antworte: die Villers’schen Briefe waren – im Gegensatz zu Ihrer Annahme Euph. 640 Anm. – schon in der alten Ausgabe (Gerold, Wien), die Graf Rudolf Hoyos besorgte, zweibändig. Wenn ich nicht irre, erschien Bd. 1 1881, Bd. 2 1887.

Noch eine Kleinigkeit: haben Sie, sehr verehrter Herr Hofrat, nicht, ebenso wie Spitzer, die Ableitung des |2| Namen Korf (Euph. 648) mit schwed. Korf, wie Spitzer mit Ruhmkorff, allzu eng gefasst, allzu etymologisierend assoziiert? Wer in den letzten Jahren in Deutschland, z. Bsp. (wie Morgenstern) in München, lebte, wird diesen Namen, wenn er ihn in Gesellschaft oder aus einem Buch hört, meist auf einen Balten beziehen, wie sie (ich meine natürlich nicht den baltischen Diplomaten oder Theologen) – adlig, prätentiös und ein wenig geheimnisvoll – in deutschen Salons und in Literatenkreisen auftauchten. Diese Assoziation – gewiss nicht zwingend, aber doch ebenso zwanglos annehmbar wie Ihre oder die Spitzers – mag Morgenstern zum Namen Korf bewogen haben. Wie der wesentlich niederdeutsche Klang von „Knickebühl“ (Euph. 648) ihm vielleicht als Stilmittel vorschwebte.

Was Spitzer nicht erwähnt, wie ich glaube, ist ein früheres, mehrfach aufgelegtes Buch M’s, „Horatius travestitus“ , das (ich kenne es nicht) wohl auch in Zusammenhang mit den Grotesken steht – und, was viel wichtiger, die stark theosophische Wendung M’s. im letzten Jahrzehnt seines Lebens (er hatte sich, wie Viele gerade in München, dem nicht erfreulichen Rudolf Steiner verschrieben), die mir – halb verspottet, halb verklärt – in manchen der späteren grotesken Gedichte anzuklingen scheint.3

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Ihre Erinnerung verfügt über die Scherze, Einfälle, Parodien usw. gut eines halben Jahrhunderts und vieler Sprachen – erscheinen Ihnen nicht schon aus diesem Grunde die doch so feinen und stilsicheren kleinen Kunstwerke M.‘s, die Spitzer zu wichtig nimmt und mit der Fülle seiner Einfälle fast erdrückt, farbloser als sie sind – als sie einem jungen Menschen erscheinen müssen?

Ich habe nun hier, ganz nahe der Grenze, mit den Zürcher Büchern meine, seit Monaten unterbrochene Arbeit für Vossler, über Ihre sprachphilosophischen Ansichten, wieder aufgenommen.4 Wenn ich darf, werde ich Ihnen, sehr verehrter Herr Hofrat, gelegentlich mit einigen Fragen kommen, soweit ich nicht in erster Instanz bei Jud Bescheid erhalte.

Vossler, den ich im Mai in München sah, fragte sehr nach Ihrem Ergehen und ich musste viel von den Stunden bei Ihnen erzählen. Auch Wilhelm Czermak in Wien5, den Sie, glaube ich, kennen, fragte nach Ihnen.

Ich lege, beschämt, nichts Besseres zu haben, einen Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung für Ihre Mischsprachenkollektaneen bei, der freilich die Gebiete Ihres Interesses nur streift. Wie gerne würde ich – nicht um Sie mit Lektüre zu bemühen, nur als Zeichen des Danks und der Verehrung – etwas Eigenes beilegen. Vielleicht daß ein Nekrolog auf meinen Lehrer Adolf Frey6 irgendwo erscheint.

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Hoffentlich sind Sie, hochverehrter Herr Hofrat, wohlauf und haben den Winter gut begonnen!

Mit ergebenster Empfehlung und mit Grüssen

Herbert Steiner.


1 „Baskische Konjugation [zu RB 9, I73ff.]“, Revue intern. des études basques 10, 1919, 157-163;„Chr. Morgensterns groteske Gedichte und ihre Würdigung durch L. Spitzer“, Euphorion 22, 1920, 639-655.

2 Die Familie verließ aus wirtschaftlichen Gründen Wien, wo die Versorgungslage in den ersten Jahren nach Ende des Weltkriegs sehr angespannt war, und zog nach Vorarlberg. Aus einem „Brief account of my life“ (Marbach, DLA, NL Steiner 74.5574) , den Herbert Steiner vermutlich nach der Ankunft in den USA verfasste, heißt es: „I interrupted my studies after the armistice and went to Austria for twoandahalf years, so as to take care of my parents‘ household (my father being over seventy, and I being the only child). – Due to inflation I was unable to move the household to Switzerland. I settled my parents a mile from the Swiss frontier in Vorarlberg, Austria, and started on literary work in Zurich, eventually supporting my parents up to their death“. Sein Vater sei übrigens „a British subject“ und während des I. Weltkriegs in Wien als „enemy alien“ behandelt worden. In der Urkunde des Philos. Dekanats der Univ. Graz vom 26.3.1912, in der Steiner regelmäßiger Besuch der Lehrveranstaltungen und tadelloses akademisches Benehmgen attestiert wird (Marbach, DLA, NL Steiner 74.5897) wird er als „Hubert Steiner gebürtig aus London in England“ bezeichnet.

3 Vgl. im einzelnen Peter Selg, Christian Morgenstern. Sein Weg mit Rudolf Steiner, Stuttgart 2008.

4 Die Arbeit wurde bekanntlich nicht beendet; erschienen sind nur Steiner, „Zu Hugo Schuchardts 80. Geburtstag“, ZrP 42, 1922, 1-4.

5 Wilhelm Czermak (1889-1953), Anglist in Wien, mit Schuchardt auch in brieflichem Kontakt, vgl. Lfd.Nr. 02221).

6 Adolf Frey (1855-1920), seit 1898 Ordinarius f. deutsche Literaturgeschichte in Zürich; Steiners Nachruf „Adolf Frey zum Todestag“ erschien in Schweizerland 7, 1921, 129-131.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11242)