Ernest Bovet an Hugo Schuchardt (10-01298)

von Ernest Bovet

an Hugo Schuchardt

Lausanne

16. 09. 1919

language Deutsch

Schlagwörter: Manuskriptversand Sprachen in Sierra Leone Wissen und Leben: neue Schweizer Rundschau Publikationsvorhaben Politik- und Zeitgeschichte Erster Weltkrieg Versailler Vertrag Abonnements (Zeitschriften) Persönliche Treffen Völkerbund Irredentismus Triple Entente Garibaldi, Giuseppe

Zitiervorschlag: Ernest Bovet an Hugo Schuchardt (10-01298). Lausanne, 16. 09. 1919. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3819, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3819.


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Lausanne, Campagne du Languedoc1
16. September 1919
Herrn Prof. Dr Hugo Schuchardt
Johann Fuxgasse 30. Graz.

Hochverehrter, lieber Herr Kollega,

Kürzlich ging ich auf einige Tage nach Zürich, fand dort Ihr Manuskript vor, nahm es mit nach Lausanne und habe es eben mit Ergriffenheit gelesen.

Gewiss, die „Bekenntnise und Erkenntnisse“ werden in Wissen und Leben erscheinen2; das Datum kann ich noch nicht feststellen; doch, so bald wie möglich. – Mündlich hätte ich recht Vieles dazu zu sagen; schriftlich geht es kaum. Meine Verurteilung des Friedensvertrages ändert nichts an dem früheren Urteil über die Verantwortung; die Bestien der ganzen Welt sind eben durch die preussische Militärpolitik entfesselt |2| worden … Erlebe ich noch den Zusammenschluss und den Sieg der Besseren der ganzen Welt? Die Enttäuschung des Friedensvertrages hat mich plötzlich um viele Jahre älter gemacht. Meine letzte Hoffnung ist der Völkerbund, der den Friedensvertrag sprengen kann.

Das Verhalten von Italien schmerzt mich ganz besonders. Einige hundert Imperialisten beherrschen dort ein friedliches, vernünftiges Volk. Und dass ein Gaukler wie D’Annunzio den grossen Garibaldi nachäfft, das gehört zum Traurigsten in dien traurigen Jahren3. Jetzt hat die Entente den Fluch dafür, dass sie im Siegesrausch das Recht vergass!

Wie der gewalttätige Fanatimus die Besten verführt, das sehen wir an unserer Jugend; das sehe ich an meinem neunzehnjährigen Sohne, der, |3| hochbegabt und von reinster Seele, im Geiste die tollsten Sprünge macht.4

Unser Volk soll bald über den Eintritt in den Völkerbund beschliessen; darüber habe ich schon vier Vorträge gehalten, die ich noch ein Dutzend Mal wiederholen soll. Was wird dabei aus der Literaturgeschichte?!5 Heute muss der Bürger die Geschichte leben, und wiederholen: „Nunquam desperare debemus …“.6 Es mag eine Periode der Barbarei einbrechen; spätere Geschlechter sollen uns nicht vorwerfen dürfen, wir hätten am Geiste, am Kalokagathon7 verzweifelt. Das geht über die Wissenschaft hinaus, die wir zu sehr verherrlicht haben.

Ich schreibe an das Sekretariat von Wissen und Leben, man soll Ihnen die Zeitschrift zusenden; der 14te Jahrgang beginnt am 1. Oktober. Den Abonnementspreis ziehen wir |4| von Ihrem Honorar ab.

Lieber Herr Kollega, wir werden einander wohl nie sehen, mit leiblichen Augen, wie es mein Wunsch war. Sie sollen aber wissen, dass ich Sie seit den Studentenjahren immer wie einen Freund verehrt und geliebt habe, nicht bloss wegen der grossen wissenschaftlichen Gaben, die Sie uns erteilten, sondern auch wegen des warmen Herzens, das ich in Ihren Schriften pulsieren hörte. Haben Sie herzlichen Dank dafür, und seien [Text: Seien] Sie überzeugt, dass, neben Ihren Werken, auch diese Flamme weiterleben wird; daran kann keine Gewalt irgend etwas ändern.

In tiefer Dankbarkeit

Ihr Ergebener

EBovet.


1 La colline du Languedoc ist ein Stadtteil von Lausanne; es gibt auch einen Chemin du Languedoc.

2 Vgl. Anm. 1 zu Lfd. Nr. 09-01297.

3 Gemeint ist die sog. spedizione di Fiume, die widerrechtliche Besetzung der kroatischen Hafenstadt Rijeka (ital. Fiume) durch italienische Freischärler unter Führung des Schriftstellers Gabriele D’Annunzio am 12. September 1919. Sie ist, so Bovet, nicht mit der spedizione dei Mille, der Expedition italienischer Freiwilliger, die am 11. Mai 1860 auf Sizilien landeten und die Insel von der spanischen Herrschaft befreiten, zu vergleichen, die Einigung Italiens erst möglich machte.

4 Theodor Bovet (1900-1976), in Rom geborener Sohn, der später ein bekannter Psychiater und christlicher Eheberater wurde.

5 Bovet gab seinen Lehrstuhl am 2.3.1922 auf, um am 1.4. d.J. das Amt des Generalekretärs von „Die Schweizerische Vereinigung für den Völkerbund“ zu übernehmen: „Seine Aufgabe sollte es sein, die Grundsätze des Völkerbundes und den Zweck der ,Vereinigung‘ bekannt zu machen, persönlich bei der Mitgliederwerbung mitzuwirken und die Verbindung zum Völkerbundssekretariat in Genf und zur Union der Völkerbundsvereinigungen aufrechtzuerhalten. Sitz des Generalsekretariats sollte Lausanne werden, damit Bovet einen besseren Kontakt mit den offiziellen Organen des Völkerbundes pflegen könne“ (Büttiker, 1971, 90).

6 Von diesem Satz („man darf niemals verzweifeln, niemals die Hoffnung aufgeben“) existieren mehrere Versionen, z.B. Johannes Chrysostomos: „desperare numquam oportet“.

7 καλοκαγαθία, das griechische Ideal des Guten und Schönen.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 01298)