Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (11-02800)

von Karl von Ettmayer

an Hugo Schuchardt

Freiburg im Üechtland

09. 11. 1909

language Deutsch

Schlagwörter: Sachwortforschung Wörter und Sachen Dialektologie und Sprachgeographie Spracherwerb Sprachphilosophie Sprachen am Golf von Guinea Romanische Philologielanguage Frankoprovenzalisch Adametz, Leopold Rolland, Eugène Gauchat, Louis Wundt, Wilhelm Schuchardt, Hugo (1909) Goebl, Hans (Hrsg.) (1995) Wundt, Wilhelm (1904)

Zitiervorschlag: Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (11-02800). Freiburg im Üechtland, 09. 11. 1909. Hrsg. von Hans Goebl (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3436, abgerufen am 16. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3436.

Printedition: Goebl, Hans (1995): Karl von Ettmayer: Lombardisch-Ladinisches aus Südtirol. Ein Beitrag zum oberitalienischen Vokalismus. Die zugrundeliegenden Dialektmaterialien. Neu herausgegeben, mit einem vorwärts und einem rückwärts alphabetischen Register der Etyma, einer kurzen geotypologischen Studie zu den neuveröffentlichten Materialien, einer Biographie und einer Bibliographie sowie einer Würdigung des wissenschaftlichen Oeuvres Karl von Ettmayers. San Martin de Tor / St. Martin in Thurn (Ladinien, Südtirol): Istitut Cultural Ladin 'Micurá de Rü'.


|1|

Freiburg d. 9.11.909
Aux Charmettes

Hochgeehrter Herr Hofrat !

Der Semesterbeginn mit allerhand nöthigen und unnöthigen Zutaten hat meine Beantwortung Ihres Briefes vom 25ten länger verzögert, als ich gewünscht hätte. Ich fühle wohl, dass meine Gedankengänge damit keineswegs besser geklärt wurden, und darum möchte ich vorerst auf Ihre letzte Aufforderung reagieren u.[nd] betreffs der Nachahmung in der Sprache, wie Sie sie in der Στρωματέις1 dargestellt hatten, eingehen. Ich greife darum zuerst hierauf, weil nur hier ältere Gedankenverbindungen zur Verfügung stehen. In meinem „Einführungskolleg“ in die rom. Sprachwissensch.- mit dem ich mich vor 3 oder 4 Jahren versucht hatte, führte ich bereits den Gedanken aus, die Dialekt |2| bildung2 (nur um diese handelte es sich mir) könne weder von physiologischer noch von ethnologischer Basis aus erklärt werden. Eine Aussprache mit H. Hofrat Adametz3 an der Landwirtschaftl. Hochschule in Wien (ein Haustierforscher), ergab mir, dass Mundarten und Haustier- sowie Getreidevarietäten in einem merkwürdigen Zusammenhang zu stehen scheinen. Altertümliche Lautgebung, altertümlicher Wortbestand, altertümliche Akzentuierung, altertümliche Lebensweise scheinen, wenigstens in Alpentälern[,] in enger Relation zu stehen. Seit ich in Freiburg bin, bin ich in dieser Richtung stecken geblieben, (-man könnte leicht durch Sachstudien zu Rolland4 etc. auf diesem Wege einen Versuch wagen)[,] aber im Prinzip habe ich versucht[,] diese Belehrungen[,] |3| die ich da in Wien erhalten hatte, mir zurechtzulegen[,] und kam als dialektbildendes Agens auf die Nachahmung5. Nachahmung grenzt Familien und Dorfmundarten voneinander ab, schliesst Generation gegen Generation zusammen. Daher isolierte Gebirgsdörfer wie Charmey mit ihrer auffallenden Einheitlichkeit6 der Individualsprachen. Hätte Gauchat7 etwa Montreux gewählt, so wäre sein Resultat ganz anders geworden u. so in allen Zwischenstufen. In Prinzipe [sic] vermag ich auf Ihre Stellungnahme zu Wundt8 nicht einzugehen, obwohl ich mit den meisten einschlägigen Arbeiten vertraut bin. Nur einen Gedanken, den ich schon mündlich angedeutet hatte, möchte ich mir zu wiederholen erlauben. |4| Steht Nachahmung und „Ausdrucksbewegung“ in so fundamentalem Gegensatz? Die Nachahmung ist doch zweifellos eine „Ausdrucksbewegung“ dessen[,] was man etwa als sozialen Instinct [sic] bezeichnen könnte. (Ich bin kein Philosoph und darum im Ausdruck recht unbeholfen) Lässt sich nicht der Spiess umkehren und sagen[,] die praktisch meisten Ausdrucksbewegungen der kultiv.[ierten] Menschheit sind Nachahmungen? Wenn das Kind fällt und schreit, und zunächst ganz still bleibt, - dann aber, wie die Mutter es sieht, mörderisch zu brüllen beginnt, so ist das Sprache. Da ist ein sozialer Instinkt wach geworden und Erinnerung an Liebkosungen und Tröstungen in früheren Fällen regte zur Nachahmung des damaligen Geschreis an. Ich denke das stimmt! Über meine eigenen Sachen will ich nächstens fortsetzen, - wenn es Ihnen, Herr Hofrat[,] nicht zu viel wird.

Ihr ergebener
Ettmayer


1 Auch hier handelt es sich um einen von H. Schuchardt besorgten (und bezahlten) Privatdruck „aus gegebenem Anlass“: „Sprachgeschichtliche Werte – Στρωματέις. Grazer Festgabe zum 50. Philologentag deutscher Philologen und Schulmänner“ (Graz, 1909, Selbstverlag, 18 Seiten). Das im Titel dieses Werkchens verwendete griechische Wort bedeutet so viel wie „Fleckerlteppich(e)“ und scheint bereits im Namen eines wichtigen Buchs des griechischen Theologen und Kirchenschriftstellers Clemens von Alexandria (150-215 n. Chr.) auf.

2 Dieser Begriff ist auch Leitgedanke seiner dialektologischen (besser: dialekt-theoretischen) Schrift zum „ Wesen der Dialektbildung “ aus dem Jahr 1924 (BIB 47 in Goebl 1995, 252).

3 Leopold Adametz (1861-1941): österreichischer Tierzucht- und Vererbungsforscher, von 1898 bis 1932 Professor an der Wiener Hochschule für Bodenkultur.

4 Eugène Rolland (1846-1909): französischer Ethnograph; Hauptwerk: Flore populaire ou Histoire naturelle des plantes dans leurs rapports avec la linguistique et le folklore, Paris: Maisonneuve et Larose, 1896-1914, 11 vol.

5 Ettmayer sieht – überdies ganz wie H. Schuchardt – in der (inter-individuellen) Nachahmung das zentrale Movens sprachlicher Evolution und Diffusion. Siehe dazu auch seine auf Kinder bezogene Bemerkung am Ende des Briefes 12-02799.

6 Hat Ettmayer sich hier durch den auf die Vorstellung von Einheitlichkeit verweisenden Terminus unité im Titel der Arbeit von Gauchat täuschen lassen? Die Quintessenz des Gauchat-Aufsatzes verweist hingegen auf die in der Mundart von Charmey existierende phonetische Vielfalt.

7 Louis Gauchat (1866-1942), bekannter Schweizer Romanist, von 1907 bis 1941 Ordinarius für Romanistik in Zürich. Hier bezieht sich Ettmayer auf dessen im Jahr 1905 veröffentlichte Studie zur Mundart des im Kanton Freiburg gelegenen Berg-Dorfes Charmey: L’unité phonétique dans le patois d’une commune, in: Aus romanischen Sprachen und Literaturen: Festschrift Heinrich Morf zur Feier seiner fünfundzwanzigjährigen Lehrtätigkeit von seinen Schülern dargebracht, Halle: Niemeyer, 1905, 175-232. In dieser Studie problematisiert G. die innere Einheitlichkeit (unité) der in Charmey gesprochenen frankoprovenzalischen Mundart, indem er auf systematisch zwischen den Geschlechtern und Generationen vorkommende Aussprachedifferenzen hinweist. Dieser Befund stand im Gegensatz zur damals weit verbreiteten Annahme, dass Dorfmundarten grundsätzlich „einheitlich“ bzw. variationsfrei seien (bzw. zu sein hätten). Seit den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde diese Studie mehrfach als „prä-soziolinguistischer Gründungstext“ gehandelt und im Jahr 2008 sogar ins Englische übersetzt (in: Historiographica Linguistica 35, 2008, 227-274 ). Der Befund von Gauchat wurde im Jahr 1929 durch den Göttinger Indogermanisten Eduard Herrmann (1869-1950) im Wege einer Nachenquête in Charmey überprüft bzw. rektifiziert: Lautveränderungen in den Individualsprachen einer Mundart, in: Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist.- Klasse 11 (1929), 195-214.

8 Wilhelm Wundt (1832-1920): berühmter deutscher Psychologe. Hier interessiert vor allem sein mehrbändiges Werk über Völkerpsychologie: Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte, Leipzig: Engelmann, 1900–1920, 10 vol.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 02800)