Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (02-02791)

von Karl von Ettmayer

an Hugo Schuchardt

Wien

09. 12. 1901

language Deutsch

Schlagwörter: Publikationsvorhaben Druckwesen Romanische Forschungen Korrekturlesen Druckfahnen Biographisches O. R. Reisland Verlag Sprachkontakt (allgemein) Kyffhäuser Dissertation Habilitation Wissenschaftstheoretische Reflexion Dialektologie und Sprachgeographie Deutscher Schulverein (Wien) Institut für österreichische Geschichtsforschung Sprach- und Dialektgrenzen Romanische Philologie Gebr. Henninger Verein Südmark Universität Wienlanguage Italienischlanguage Ladinisch Meyer-Lübke, Wilhelm Goebl, Hans (Hrsg.) (1995) Meyer-Lübke, Wilhelm (1890) Gartner, Theodor (1883)

Zitiervorschlag: Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt (02-02791). Wien, 09. 12. 1901. Hrsg. von Hans Goebl (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3427, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3427.

Printedition: Goebl, Hans (1995): Karl von Ettmayer: Lombardisch-Ladinisches aus Südtirol. Ein Beitrag zum oberitalienischen Vokalismus. Die zugrundeliegenden Dialektmaterialien. Neu herausgegeben, mit einem vorwärts und einem rückwärts alphabetischen Register der Etyma, einer kurzen geotypologischen Studie zu den neuveröffentlichten Materialien, einer Biographie und einer Bibliographie sowie einer Würdigung des wissenschaftlichen Oeuvres Karl von Ettmayers. San Martin de Tor / St. Martin in Thurn (Ladinien, Südtirol): Istitut Cultural Ladin 'Micurá de Rü'.


|1|

Wien, den 9ten Dezember 1901

Hochgeehrter Herr Hofrat!

Wenn ich so lange von der gütigen Erlaubnis, welche mir Herr Hofrat gaben, über mich von Zeit zu Zeit Nachrichten zu senden, keinen Gebrauch machte, so lag es darin, dass sich so wenig ereignete, dass ich befürchtet hätte, die Zeit des Herrn Hofrat mit Nichtigkeiten in Anspruch zu nehmen. Meine völlig umgearbeitete Dissertation, welche nun den ganzen betonten Vocalismus in Südtirol1 und Umgebung umfasst, liegt im Drucke in den „Romanischen Forschungen“, wie Herr Hofrat mir gerathen hatten2. Die großen, technischen Schwierigkeiten, welche mit dem Satze der phonetischen Dialecttabellen3 verbunden sind, verzögerten das Ausdrucken schon über ein Jahr: ich bin gegenwärtig erst beim 13 ten Bogen und auf 23 Bogen ist die Arbeit berechnet.

|2|

Der Herr Professor Meyer Lübke4 nimmt sich hiebei in liebenswürdiger Weise meiner an und hilft mir bei den Correcturen. Eine zweite kleine Arbeit über einige Bergamaskische Alpenmundarten (v.[ide] Imagna, Gandino, Parre5), welche ich vor einem Jahre an Ort und Stelle studierte, liegt fertig6. Über Anrathen des Herrn Professor Meyer Lübke werde ich dieselbe als Habilitationsarbeit einreichen.

Im vergangenen Herbste war ich auf drei Monate in Genf um mich etwas im Französischen auszubilden, - in diese Richtung habe ich noch immer viel nachzutragen.

Vor einer Woche überraschte mich endlich Herr Professor Meyer Lübke mit dem Vorschlage, mich dem Verlag Reissland [sic] zur Verfassung einer „Provencalischen Grammatik“ anzubieten7. Ich trat unter der Voraussetzung, dass ich in die Lage kommen kann, die lebendige Sprache an Ort und Stelle kennenzulernen, mit dem Verlage in Unterhandlung. Dieses mich so sehr ehrende Anerbieten, an die Italienische Grammatik8 und „Rhätoromanische Grammatik9“ mit einer nächsten Arbeit anknüpfen zu |3| dürfen[,] und die Hilfe[,] welche mir der Herr Professor beim Einarbeiten in dieses Feld in Aussicht stellte, geben mir den Mut, mich heranzuwagen.

Im Übrigen beschäftigte mich öfter der Gedanke, der Frage der Dialektmischung und der Grenzverschiebungen dadurch näherzukommen, dass ich die Sprachgrenzverschiebungen, vorläufig die der deutschen in Österreich und der Schweiz, einer systematischen Untersuchung unterziehen wollte, um den Einfluss der Bevölkerungsverschiebung auf die Sprachbildung zu erkennen10. Bald erkannte ich, dass unsere statistischen Daten11 hinsichtlich der Umgangssprache12 völlig wertlos sind und trat mit den deutschen Schutzvereinen13 in Österreich in Verbindungen, die ich dazu animieren wollte, ein Organ über Sprachgrenz-Angelegenheiten zu schaffen, das auch besseres, kritisches Zahlenmaterial bringen sollte. Ich bot denselben sogar eine bestehende Zeitschrift, den Kyffhäuser14, in dessen Redaction ich zu diesem Zwecke eingetreten war, an, doch zerschlug sich die Sache nach längeren Verhandlungen, da die Politik ein ruhiges Zusammenarbeiten offenbar noch nicht zulässt. Immerhin zeigte sich der deutsche Schulverein nicht abgeneigt, - und in Verbindungen |4| mit einigen jüngeren Herrn vom Institut für österreichische Geschichtsforschung15, welche gleich mir die wissenschaftliche Laufbahn aspirieren und geschichtliche und geographische Interessen der Sprachgrenz-Frage entgegenbringen, hoffe ich[,] einmal doch diesen Plan in Wirklichkeit umsetzen zu können, resp. die ersten Vorarbeiten, die wir Jungen leisten können, zu machen.

Wenn ich von der Herausgabe meiner Jugendgedichte16 absehe (welche allerdings die Kritik zu meinem Staunen ernster zu nehmen scheint als ich selbst), dürfte ich mithin das Wesentliche an meinem Curriculum vitae aufgezählt haben. Da die Weihnachtsferien und das Neujahr vor der Thüre stehen[,] gestatte ich mir Ihnen, hochgeehrter Herr Hofrat, meine ergebensten Wünsche entgegenzubringen und verbleibe

Hochachtungsvollst

Ihr

ergebener

DrKarl v Ettmayer

Wien XVIII. Gentzgasse 7.


1 Zu beachten ist, dass zeitgenössischer Diktion zufolge unter Südtirol die italienischsprachigen Anteile der in toto drei Sprachgebiete (Deutsch, Italienisch und Ladinisch) umfassenden „Gefürsteten Grafschaft Tirol mit Vorarlberg“ verstanden wurden. Daneben waren damals auch Choronyme wie Tirolo meridionale, Welschtirol, Tirolo italiano und auch – allerdings noch eher selten – die heute dominierende Form Trentino gebräuchlich

2 Man beachte die Verwendung der dritten Person Mehrzahl zur Anrede: diese war in ehrerbietigen Kontexten damals in Wien bzw. in Österreich allgemein – und zwar schriftlich wie mündlich – üblich. In der Wiener „Hofbäckerei Demel“ am Kohlmarkt (Innere Stadt) wird sie vom Servierpersonal zum Erstaunen vieler ausländischer Gäste heute noch gepflegt.

3 In der gedruckten Fassung von 1902 figurieren die zu Grunde gelegten Dialekt-Daten nicht in der Form kohärenter Tabellen und konnten daher vom Leser nur unter Schwierigkeiten überprüft bzw. zur Beantwortung eigenständiger Fragestellungen benützt werden. Dies war der Grund, weshalb ich die in der Druckversion von 1902 als membra disiecta vorliegenden Daten in den Jahren 1993-1995 reproduktionstechnisch zu kohärenten Tabellen zusammengeführt und in der Form einer zweidimensionalen Matrix (bestehend aus 77 Messpunkten und 215 „Paradigmen“) in Buchform publiziert habe.

4 Ettmayer hat seine romanistischen Studien ab 1900 in Wien bei Wilhelm Meyer-Lübke (1861-1936), dem damals wohl international führenden Kopf der romanistischen Linguistik, fortgesetzt. Dabei war sein Ziel die Habilitation, das er tatsächlich im Jahr 1903 erreichte. Meyer-Lübke war in Wien Professor für Romanische Philologie zwischen 1890 und 1915. Ettmayer trat 1915 seine Nachfolge an.

5 Es handelt sich um von Ettmayer sprachlich explorierte Ortschaften, die etwa 20 km nördlich und östlich von Bergamo liegen.

6 Hier geht es um seine im Jahr 1903 publizierte Habilitationsschrift „Bergamaskische Alpenmundarten“, Leipzig: Reisland. Er hat die dafür nötigen Feldenquêten im Jahr 1901 auf der Rückreise von einem in Genf absolvierten Sprachaufenthalt durchgeführt: siehe dazu seine autographe Vita bei Goebl 1995, 200-201.

7 Die fragliche Grammatik wurde 1919 von Carl Appel (1857-1934) beim Verlag Reisland unter dem Titel „ Provenzalische Lautlehre “ veröffentlicht. Diese ergänzte die schon 1895 in erster Auflage erschienene „ Provenzalische Chrestomathie “ desselben Autors.

8 Dabei handelt es sich um die von W. Meyer-Lübke selber im Jahr 1890 bei Reisland publizierte „ Italienische Grammatik“.

9 Eine solche war schon im Jahr 1883 unter dem Titel „Raetoromanische Grammatik“ vom österreichischen Romanisten Theodor Gartner (1843-1925) in Heilbronn bei Henninger veröffentlicht worden.

10 Derartige disziplinübergreifenden Überlegungen, die letztendlich auf eine enge Verknüpfung inner- und außerlinguistischer Fragestellungen hinauslaufen, tauchen sowohl in den Briefen wie in den Schriften Ettmayers immer wieder auf.

11 Ettmayer bezieht sich dabei auf die österreichischen (genauer: zisleithanischen) Volkszählungen, von denen damals erst drei vorlagen: von 1880, 1890 und 1900. Siehe dazu die vorzügliche Arbeit von Emil Brix: Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation: die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910, Wien: Böhlau, 1982.

12 Bei allen zur Zeit der Monarchie und auch später in Österreich durchgeführten Volkszählungen wurde stets nach der Umgangssprache („Sprache des alltäglichen Umgangs“) und nicht nach der Muttersprache der zu Zählenden gefragt. Diese Fragestellung entsprach einer um 1850 unter Statistikern aufgekommenen Tradition. Sie wurde von den altösterreichischen Behörden trotz zahlreicher Proteste für alle Sprachen Zisleithaniens bis 1918 unbeirrt beibehalten.

13 Für Österreich hatten diesbezüglich vor allem der „Deutsche Schulverein“ (gegründet 1880) und die Organisation „Südmark“ (gegründet 1889) Bedeutung. Bei beiden Institutionen konnte Ettmayer präzise Kenntnisse über die örtliche Sprachenvielfalt erwarten.

14 Ein ab 1881 erscheinendes Informationsorgan deutschnational gesinnter Studenten.

15 Ein 1854 an der Universität Wien gegründetes Institut zur Erforschung der Geschichte Österreichs, das heute noch besteht.

16 Bei meinen Recherchen zur Biographie von Ettmayer bin ich bei Mitgliedern seiner Familie mehrfach auf Hinweise gestoßen, dass dieser sich literarisch betätigt hat: cf. Goebl 1995, 234.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 02791)