Karl Vossler an Hugo Schuchardt (24-12540)

von Karl Vossler

an Hugo Schuchardt

München

25. 12. 1919

language Deutsch

Schlagwörter: Literaturstudien Fabeln Sprachursprung Verlust von Korrespondenz Neujahrsgrüße Schuchardt, Hugo (1919) Wundt, Wilhelm (1904) Wundt, Wilhelm (1904)

Zitiervorschlag: Karl Vossler an Hugo Schuchardt (24-12540). München, 25. 12. 1919. Hrsg. von Verena Schwägerl-Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2852, abgerufen am 19. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2852.

Printedition: Schwägerl-Melchior, Verena (2015): Mein Verhältnis zur Sprachwissenschaft ist das des unglücklichen Liebhabers" - Der Briefwechsel zwischen Hugo Schuchardt und Karl Vossler. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 80., S. 181-266.


|1|


M. 25. XII.19
Leopoldstr. 87 II

Hochverehrter u. lieber Freund,

Ihr Brief hat mir eine sehr große Freude gemacht; zuerst will ich aber das postkartliche Post-Scriptum1 beantworten u. Ihnen gestehen, daß ich manchmal, sei es aus Schelmerei, sei es aus Übermut, eine Petarde loslasse, die dem geneigten Leser in die Nase fahren soll. Eine solche Petarde ist die "grimmige Torheit"2 am Anfang meines Büchleins. Da aber auch das Feuerwerk nicht ohne Lichterscheinung knallen darf, so möchte ich behaupten, daß eine kleine Wahrheit doch dahinter steckt. Die großen Dichter wie Cervantes u. La Fontaine sind insofern nicht für Kinder, als diese zumeist für ihr ganzes Leben den Eindruck aus der Kinderstube mitnehmen, daß jene Dichter kleines Format seien. Die Schätzung La Font's. leidet darunter noch heute in Frankreich. Der gebildete Franzose hält noch heute für |2| Kleinkunst was wirklich zur ersten Großkunst gehört. U. ähnlich ergeht es vielen Gebildeten Deutschen mit Cervantes. Ich habe schon oft beobachten u. hören können, daß sehr verständige Menschen nicht mehr die Unmittelbarkeit haben aufbringen können, die dichterische Großheit in Cervantes zu empfinden. Nicht aus moralischen, sondern aus künstlerischen Gründen möchte ich den La Font. aus der Kinderstube erlösen. Aus denselben Gründen etwa, aus denen ich ein Kind nicht ohne Not in eine großartige Alpenlandschaft führen möchte. Nur zu leicht entjungfert man die Phantasie, wenn man ihr das Größte u. Beste am Anfang schon darreicht. Wenn Sie, hochverehrter Freund, die Frische der Phantasie sich bewahrt haben, so ist das kein Gegenbeweis. Sie sind, wie in so Vielem, auch darin eine Aus|3|nahme. Für mich ist der ganze Reiz des Hochgebirges verblaßt, seit ich mit 14 Jahren auf einer Schweizer Reise mich daran sattphantasiert habe, u. meine Frau hält mich für einen blasierten Greis, weil ich jahrelang in München lebe, ohne einen Bergstock u. genagelte Stiefel zu besitzen.

Vielen Dank für den schönen Aufsatz II über Sprachursprung.3 Ich kann dem Allem freudig zustimmen: unter der Bedingung, daß es nur für den Standpunkt des Sprechers gilt, nicht auch für den des Hörers. Für den Sprecher scheint mir die Eingliedrigkeit des Satzes das Primäre.4 Ich kann dann auch die Geburt "aus der Not" verstehen.5 Aus subjektiver Not heraus kommt auch die Kunst. Der Hörer aber treibt immer Analyse, u. damit hat man die Zweigliedrigkeit u. die Zweckbeziehung. Was die Priorität des Verbalbegriffes angeht, so bedeutet sie in Ihrer |4| Auffassung, wenn ich nicht irre, einfach den dynamischen Charakter des sprachlichen Gedankens.6 Demgegenüber ist der statische allerdings das sekundäre Moment. Darüber daß "primär u. sekundär"7 hier nur noch logisch oder systematisch, nicht zeitlich und historisch gemeint sind, sind wir uns wohl ohne weiteres einig.

Hoffentlich speit die Post den ersten Aufsatz, den Sie verschlungen hat, wieder aus.

Nochmals vielen vielen Dank, u. von Herzen ein Gutes Neujahr, auch von meiner Frau, die bestens grüßen läßt.

Ihr in aufrichtiger Verehrung ergebener
Karl Vossler.


1 Schuchardt selbst verwendet in Bezug auf seine als Nachtrag zum vorangehenden Brief zu wertende Postkarte vom 20. Dezember 1919 (Lfd. Nr. 23-HS_KV_s.n.) den Ausdruck "PS".

2 Siehe Anm. 2 zu 23-HS_KV_s.n.

3 Schuchardt (1919, HSA 712).

4 Vgl. Schuchardt (1919 [HSA 712: 864): "Die ursprünglichsten Sätze, die Ursätze, sind eingliedrig; sie haben sich bis in die Gegenwart fortgesetzt, und zwar sowohl als Heischungen (Imperative, Anrufe) wie als subjektlose Aussagen (Impersonalien, Ausrufe). Die ersteren sind den Menschen mit den Tieren gemein, bei denen sie als Droh-, Warn-, Hilfe-, Lockrufe auftreten; aber indem hinter ihnen immer irgendein erregender Vorgang steht, ein innerer oder äußerer (Erwachen des Hungers, des Geschlechtstriebes, Erblicken des Feindes usw.), dienen sie zugleich als Aussagen".

5 Schuchardt (1919 [HSA 712]: 865): "Jetzt und seit lange sage ich: aus der Not geboren, gipfelt die Sprache in der Kunst".

6 Hier versteht Vossler Schuchardts Gedanken nicht zur Gänze. Schuchardt bezieht sich hier auf entwicklungsgeschichtliche Sequenzen der Onto- und der Phylogenese und nicht auf die Dynamik des sprachlichen Gedankens. Vgl. Schuchardt (1919, [HSA 712]: 869): "Mit der Eingliedrigkeit der Ursätze ist die Priorität des Gegenstandsbegriffs unvereinbar; denn jene besagen nur, was geschehen soll oder was eben geschehen ist. In allem Anfang nimmt der Mensch schon die Dinge seiner Umgebung wahr, aber wie einen Teppich mit bunten, wirren Arabesken. Die Dinge voneinander zu unterscheiden, das lehren ihn erst die Veränderungen, die mit ihnen vorgehen, vor allem die Ortsveränderungen, die Bewegungen (wozu die eigenen Bewegungen hinzukommen). Und wir finden nach langen und mannigfachen Erfahrungen immer noch Gelegenheiten das festzustellen; wir werden z.B. ein winziges Insekt für den Bestandteil einer Baumrinde halten, bis es sich in Bewegung setzt. Die Impersonalien liefern die besten Belege. Selbst seine eigene Gegenständlichkeit, das Ich, entdeckt der Mensch erst an den Tätigkeiten, die er ausübt (vgl. Cogito, ergo sum). Die eingliedrigen Sätze der Kindersprache beziehen sich in der Regel auf Geschehnisse und haben daher verbalen Charakter, auch wenn sie in Substantiven bestehen: tritt z.B. die Mutter ins Zimmer und das Kind ruft aus: Mama!, so bedeutet das nicht: 'das ist die Mama (nicht der Papa)' sondern 'da kommt die Mama', wie etwa der Ausruf die Sonne! bei erwartetem Sonnenaufgang soviel bedeutet wie: 'da kommt die Sonne'. […] Aber um so entschiedener lehne ich mich gegen Behauptungen auf wie die, daß 'die Annahme, der Mensch habe Tätigkeiten und Vorgänge früher genannt als Gegenstände, abgesehen von den Zeugnissen der individuellen und generellen Sprachentwicklung, auch psychologisch unmöglich sei', oder daß 'man sich unmöglich denken könne, der Mensch habe irgend einmal bloß in Verbalbegriffen gedacht; das Umgekehrte, daß er bloß in gegenständlichen Vorstellungen gedacht habe, könnte man nach den psychologischen Eigenschaften viel eher verstehen'." Im letzten Abschnitt wendet sich Schuchardt gegen die von ihm zitierten Ansichten Wilhelm Wundts(Wundt 1900: 598 und Wundt ²1904: 594).

7 Es konnte nicht geklärt werden, auf welche Stelle in Schuchardt (1919, HSA 712) Vossler sich hier bezieht.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12540)