Hugo Schuchardt an Karl Vossler (22-HS_KV_s.n.)

von Hugo Schuchardt

an Karl Vossler

Graz

18. 12. 1919

language Deutsch

Schlagwörter: Biographisches Publikationsversand Fabeln Literarische Übersetzung Politik- und Zeitgeschichte Forschungsfelder Schuchardts Sonderabdruck Villa Malwinelanguage Vulgärlatein Trombetti, Alfredo Vossler, Karl (1919) Kobler, Lilli (2005) La Fontaine, Jean de (1722) Schuchardt, Hugo (1919) Schuchardt, Hugo (1919) Schuchardt, Hugo (1866) Schuchardt, Hugo (1881) Schuchardt, Hugo (1882) Schuchardt, Hugo (1882) Schuchardt, Hugo (1883) Schuchardt, Hugo (1884) Schuchardt, Hugo (1884) Schuchardt, Hugo (1884) Schuchardt, Hugo (1888) Schuchardt, Hugo (1888) Schuchardt, Hugo (1890)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Karl Vossler (22-HS_KV_s.n.). Graz, 18. 12. 1919. Hrsg. von Verena Schwägerl-Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2850, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2850.


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G. 18. XII. '19

Lieber Freund und Kollege!

Denjenigen Gelehrten die die Gesetzmäßigkeit im Zufall nachzuweisen sich bemühen, liefere ich wiederum ein neues Beweisstück. Ich setze mich heute morgen hin um auf die Hülle eines Minimaldruckes Ihren Namen zu setzen und breche bei "Herrn" ab um aus der Hand eines dienenden Geistes ein schweres Paket entgegenzunehmen auf dem Ihr Name steht und das ein Maximalwerk enthält.1

Noch mehr! Ich war nie sehr aufgelegt mich in Erinnerungen zu ergehen; nur in meinen ältesten Tagen ist es über mich gekommen und man braucht mich nur anzurühren so sprudeln Erinnerungen heraus. Das kommt |2| aber von den schlaflosen Nachtstunden her. Heute ließ ich in aller Frühe meine Weihnachtsfeiern an mir vorübermarschieren und es ergab sich mir daß sie größtenteils aus Vergewaltigungen, Enttäuschungen und Magenverstimmungen bestanden haben*, abgesehen von den allerersten Zeiten mit den steifen Lämmchen und den steifen Pappelbäumchen und von der letzten Zeit, wo mir dem Familienlosen Weihnachten nur ein "flatus vocis" geblieben ist. In jungen Jahren wurde alle Sentimentalität durch die leiblichen Genüsse niedergedrückt; später sehnte ich mich nach Poesie und habe sie nie gefunden. Vielleicht einmal etwas Ähnliches, als ich 1867 am Weihnachtsabend in Rom ankam und die Quarant'ore in S.Luigi de' Francesi genoß. Sonst bei Bescherungen in Familien oder in Verbänden, habe ich nur prosaische Eindrücke erhalten. Jahr für Jahr bin ich wie Harun-al-Raschid am heiligen Abend |3| in den Straßen umhergewandert,2 hoffend daß auch mir ein kleines Christabenteuer, wie sie um diese Zeit in hunderten von Novelleten geschildert werden, blühen möchte, sei es auch nur ein an einem Schaufenster plattgedrücktes Näschen mit zwei sehnsuchtsvollen Augen darüber. Aber nichts! Nun endlich als es fast schon zu spät war, ist mir Weihnachtspoesie zu teil geworden. Denken Sie keineswegs daß ich aus Höflichkeit übertreibe. Lafontaine war der Lieblingsfranzose meiner Mutter3 die noch als sie schon über 80 Jahre alt war, zur Gedächtnisstärkung Fabeln von ihm auswendig lernte. Ich selbst aber habe ihn seit meiner frühesten Kindheit gekannt, in einer Ausgabe von 1722, auf deren Titelbild mir besonders der bucklige Aesop auffiel.4 Schon 1850, als Achtjähriger übertrug ich Les deux Pigeons in deutsche "Verse" (Zwei Tauben brüderlich auf einem Baum ...) und darf mich soweit vielleicht |4| den frühesten (freilich auch den freiesten) Übersetzer Lafontaines nennen. Sie sehen also, Sie haben Glück gehabt; Sie haben mir Erinnerungsglück gebracht. Und bei dieser Gelegenheit bitte ich mich der Angewidmeten (oder muß man Anschriftlerin sagen?), der zwanzigjährigen Deutschen zu Gnaden zu empfehlen.5 Ich freue mich daß Sie beide mir meine – hoffentlich vorübergehende – Verstimmung gegen die Italiener nicht übel nehmen; ich sehe eben die deutsche Irredenta mit italienischem Temperament an.

Ich schäme mich fast Ihnen gleichzeitig ein so dürftiges Ding wie meinen Sprachursprung II6 geschickt zu haben, besonders da unsere Ansichten sich kaum decken. Ich habe Ihrer aber gedacht als ich schrieb daß die Sprache in der Kunst gipfle. Ich habe mich immer in den Niederungen herumgetrieben (geplante Doktordissertation über den Mistkäfer bei Aristophanes, Vulgärlatein,7 Cantes flamencos,8 Kreolisch),9 Sie immer auf den Höhen. Von Spr. I10 habe ich keine SA [Sonderabdrucke] erhalten, wahrscheinlich ist der Stoß unterwegs für Brennmaterial gehalten worden was ja von der Wahrheit nicht gar so weit ab läge. Er handelt über Polygenese und (Trombettis)11Monogenese und lehnt beide ab, bzw. erkennt beide an.

Mit herzlichen Wünschen für Sie und die Ihrigen

Ihr dankbarer

HSchuchardt

Ist die zweite Ziffer Ihrer Hausnummer eine 7 oder eine 4? Im ersteren Falle unterscheidet sich Ihre 7 von meiner 7 wie das fidele Schweinchen von dem traurigen (Fl.Bl.)12

* Als ich zum ersten Male mit meinen Eltern bei einer herzoglichen Patin zur Bescherung war, biß ich, in völliger Verkennung der Symbolik, die hohe Frau in die Hand, was mir später als frühes Anzeichen eines bissigen Charakters ausgelegt wurde.


1 Vossler hatte Schuchardt wie angekündigt seine Arbeit zu La Fontaine(Vossler 1919a) zukommen lassen.

2 In den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht wird dem Kalifen Harūn al-Raschīd oftmals zugeschrieben, dass er nachts durch die Straßen Bagdads gewandert sei (vgl. Kobler 2005).

3 Malwine Schuchardt (1815-1898), geb. von Bridel-Brideri. Die Mutter Hugo Schuchardts stammte aus der französischen Schweiz und stellte für Schuchardt bis zu ihrem Tod eine wichtige Bezugsperson dar, nach der er auch seine Grazer Villa benannte.

4 Die Amsterdamer Ausgabe der Fabeln La Fontaines (La Fontaine 1722) enthält eine bildliche Darstellung, auf der Aesop La Fontaine Fabeln diktiert. Es ist anzunehmen, dass Schuchardt diese Ausgabe meint.

5 Karl Vossler widmete seine Arbeit zu La Fontaines Fabelwerk "Meiner lieben Frau Esterina zum 20. Christtag in Deutschland" (Vossler 1919a: III).

6 Schuchardt veröffentlichte ab 1919 eine Serie von Beiträgen zum Thema Sprachursprung. Aufgrund einer Verzögerung bei der Auslieferung der Sonderdrucke von Sprachursprung I (Schuchardt 1919, HSA 711) ließ Schuchardt Vossler Sprachursprung II (Schuchardt 1919. HSA 712) zuerst zukommen.

7 Schuchardt verfasste seine Dissertation schließlich zum Vokalismus des Vulgärlatein. Die Arbeit, die zwischen 1866-1868 publiziert wurde, wurde zu einem der grundlegenden Texte der romanistischen Sprachwissenschaft.

8 Nach seiner Spanienreise 1879 befasste Schuchardt sich mit den südspanischen Volksliedern (Schuchardt 1881, HSA 125).

9 Vgl. insbesondere die Kreolischen Studien I-IX (= Schuchardt 1882 [HSA 132], 1882 [HSA 133], 1883 [HSA 147], 1884 [HSA 148], 1884 [HSA 149], 1884 [HSA 150], 1888 [HSA 210], 1888 [HSA 211], 1890 [HSA 232]).

10 Schuchardt (1919, HSA 711).

11 Alfredo Trombetti (1866-1929), italienischer Philologe, vertrat die Auffassung, alle Sprachen stammten von einer Ursprache ab. Die umfangreiche Korrespondenz Trombettis mit Schuchardt wurde von Bernhard Hurch bearbeitet.

12 Vermutlich eine Anspielung auf eine der zahlreichen Illustrationen in den Fliegenden Blättern, einer humoritisch-parodistischen Wochenschrift (digital verfügbar unter http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/fachinfo/www/kunst/digilit/fliegendeblaetter.html).

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