Karl Vossler an Hugo Schuchardt (06-12530)

von Karl Vossler

an Hugo Schuchardt

München

22. 10. 1911

language Deutsch

Schlagwörter: Dankschreiben Publikationsversand Universitätsangelegenheiten Sachwortforschung Wissenschaftliche Diskussionen und Kontroversen Literaturstudien Wörter und Sachen [Zeitschrift] Wörter und Sachen Zeitschrift für romanische Philologie Universitätsbibliothek Graz Meringer, Rudolf Meyer-Lübke, Wilhelm Schuchardt, Hugo (1911) Pohl, Heinz Dieter (1994) Schmitt, Christian (2001) Schuchardt, Hugo (1908) Meringer, Rudolf (1909) Meringer, Rudolf (1911) Meyer-Lübke, Wilhelm (1909) Heller, Dorothee (1998) Vossler, Karl (1910) Elwert, W. Theodor (1985) Meyer-Lübke, Wilhelm (1911) Kluge, Friedrich (2011) Vossler, Karl (1911) Vossler, Karl (1911)

Zitiervorschlag: Karl Vossler an Hugo Schuchardt (06-12530). München, 22. 10. 1911. Hrsg. von Verena Schwägerl-Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2832, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2832.

Printedition: Schwägerl-Melchior, Verena (2015): Mein Verhältnis zur Sprachwissenschaft ist das des unglücklichen Liebhabers" - Der Briefwechsel zwischen Hugo Schuchardt und Karl Vossler. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 80., S. 181-266.


|1|

Hochverehrter Herr Professor,

Vielen Dank für Ihr Flugblatt gegen Meringer.1 Ich habe zwar, da ich tief im bayrischen Staatsexamen stecke, Meringers Artikel nicht gelesen,2 kenne aber seine kitzelige wissenschaftliche Eifersucht hinlänglich u. bin, wie Sie wissen, von der Originalität Ihrer Forschungen u. von der seltenen Selbständigkeit Ihrer ganzen sprachwissenschaftlichen Gedankenwelt viel zu tief überzeugt, als daß es mir zweifelhaft sein könnte, auf wessen Seite das Recht liegt. – Als ich vor |2| einem Jahr meinen Logos-Artikel über Grammatik u. Sprachgeschichte3 an Meyer-Lübke4 sandte, erregte der Passus: "der Geschmack aber ist als wirkender Faktor der Sprachgeschichte bis jetzt nur von wenigen, z.B. von Hugo Schuchardt anerkannt" in Wien Anstoß u. M.-L. warf mir auf einer Postkarte vor, daß ich Meringer vergeßen u. mit Unrecht Schuchardt vorgezogen habe.5 Die Sache kam mir zu geringfügig vor, um darauf zu antworten. Für dieses Stillschweigen wurde ich in einer Fußnote der Z.f.rom.Ph. von M.-L. am Ohr gezogen.6 Ich hoffe u. wünsche von Herzen, daß Sie sich durch solche futilités u. puérilités den Humor nicht verderben u. die schönen |3| reifen Früchte Ihres Lebensherbstes nicht vergiften laßen.7 Solange man mit Frucht gesegnet ist, kann man nicht eifersüchtig sein.

Im Übrigen freue ich mich darüber, daß Ihr würdig u. vornehm gehaltenes Flugblatt, in dem ein leiser, wehmütiger, aber mannhaft verhaltener Gefühlstau sympathisch berührt, mir Gelegenheit giebt, Sie meiner aufrichtigen Bewunderung u. Sympathie im ursprünglichen Sinn des Wortes8 zu versichern. Laßen Sie sich gefallen, daß ich Ihnen als ein Zeichen dieser Gefühle zwei kleine sprachwissenschaftliche Pfuschereien überreiche.9 Ich bin mir wohl bewußt, daß ich in diesen Dingen nur Dilettant bin; denn Begabung u. Neigung grav|4|itieren bei mir nach der literarhistorischen Seite. Aber in einer Wissenschaft, wo es so viele Fachleute u. technische Routiniers giebt, kann es am Ende nicht schaden, wenn zu weilen ein Amateur dazwischen redet.

Stets Ihr ergebener
Karl Vossler.

München, 22. Oktober 1911.


1 Es handelt sich um Schuchardt, Hugo (1911). Gegen Meringer, HSA 608. Dem Exemplar aus dem Schuchardt-Nachlass liegt auf der vierten Seite eine Adressatenliste für die Zusendung des Flugblatts bei, auf der auch Vossler vermerkt ist. Der Disput zwischen Hugo Schuchardt und Rudolf Meringer (1859-1931), Indogermanist und Professorenkollege Schuchardts in Graz, Begründer und Herausgeber der Zeitschrift Wörter und Sachen (vgl. Pohl 1994), der im Folgenden thematisiert wird, entzündete sich am 'Urheberrecht' in Bezug auf die Verbindung von Sprachwissenschaft und Ethnographie, wie sie beide Sprachwissenschaftler in ihren Forschungen um die Jahrhundertwende begonnen hatten und die in die als Wörter und Sachen in die Geschichte der Sprachwissenschaft eingegangene Strömung münden sollte (vgl. hierzu Schmitt 2001). Der Disput hierüber wird in mehreren Publikationen sehr polemisch geführt (Schuchardt 1908 [HSA 578], 1911 [HSA 608]; Meringer 1909, 1911), obwohl Schuchardt zunächst keinen Anlass dazu gesehen hätte, sich mit dem Grazer Kollegen zu überwerfen: "Wir beide sind unabhängig voneinander zu wesentlich gleichen Anschauungen über 'Sachen und Wörter' gelangt, er von den Sachen, ich von den Wörtern aus, er auf germanischem, ich auf romanischem Gebiet […]" (Schuchardt 1908 [HSA 578]: 2-3). Auf die unabhängige Entwicklung des Forschungsansatzes wies auch Meyer-Lübke hin: "Während Meringer über die Sachen zu den Wörtern zurückgekehrt ist, hat Schuchardt ungefähr gleichzeitig und von Meringer ebenso unabhängig wie Meringer von ihm, auf der Suche nach der Etymologie von trouver ebenfalls Wortforschung und Sachforschung verknüpft." (Meyer-Lübke 1909: 640, zitiert bei Heller 1998: 22). Dennoch musste Schuchardt sich später von Meringer gar den Vorwurf des konzeptuellen Plagiats gefallen lassen (Meringer 1911), was das Zerwürfnis endgültigen Charakter annehmen ließ (vgl. Schuchardt 1911 [HSA 608]).

2 Gemeint ist: Meringer, Rudolf (1911). Zur Aufgabe und zum Namen unserer Zeitschrift, Wörter und Sachen III, 22-55.

3 Bei dem betreffenden Artikel handelt es sich um Vossler (1910).

4 Wilhelm Meyer-Lübke (1861-1936), Schweizer Romanist, der seit 1890 in Wien romanische Philologie lehrte und mit Rudolf Meringer und anderen die Zeitschrift Wörter und Sachen herausgab (vgl. Elwert 1994).

5 Die betreffende Postkarte konnte für die vorliegende Edition nicht eingesehen werden. Die Briefe Meyer-Lübkes an Vossler befinden sich im in der Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrten Nachlass von Karl Vossler. Der in Teilen in Graz aufbewahrte umfangreiche Briefwechsel zwischen Schuchardt und Meyer-Lübke soll sobald wie möglich aufgearbeitet werden.

6 Meyer-Lübke (1911: 242, Anm. 1) geht mit Vosslers Begriff der "Ästhetik" und seinen Ansichten zum Lautwandel und dessen Ursachen recht hart ins Gericht.

7 Vossler nimmt hier Bezug auf Schuchardt (1911 [HSA 608]: 4): "Wäre es mir 'beinahe von ungefähr geglückt' – wie er [ Meringer] S. 31 sagt – ihm die Freude an der neuen Zeitschrift zu vergällen, so scheint er sich nicht darum zu kümmern, ob er mir nicht den Lebensabend vergällt hat".

8 I.e. 'Mitgefühl', vgl. Kluge 2011, s.v. "Entlehnt aus l. sympathīa, dieses aus gr. sympátheia, zu gr. sympathḗs ‛mitleidend, mitfühlend".

9 Vermutlich handelt es sich um Vossler, Karl (1911b). Zur Entstehungsgeschichte der französischen Schriftsprache. Germanisch-Romanische Monatsschrift 3 (1911), 45-60, 157-171, 230-246, 348-363, 476-494 (ein mit Schuchardts Exlibris versehenes gebundenes Exemplar der gesamten, ursprünglich in fünf Teilen erschienenen Publikation wird mit der Signatur FS/11/8 in der Fachbibliothek Romanistik der Universitätsbibliothek Graz aufbewahrt) und Vossler, Karl (1911a). Das Verhältnis von Sprachgeschichte und Literaturgeschichte. Logos 2, 167-178; hiervon konnte kein Exemplar aus Schuchardts Besitz ausfindig gemacht werden. Die Annahme, dass es sich um diese beiden Publikationen gehandelt haben muss, wird durch den Dank Schuchardts im folgenden Brief für "Brief, Logos und GRM" gestärkt.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12530)