Hugo Schuchardt an Carolina Michaëlis de Vasconcelos (13-s.n.)

von Hugo Schuchardt

an Carolina Michaëlis de Vasconcelos

Sankt Radegund bei Graz

22. 09. 1880

language Deutsch

Schlagwörter: Kuraufenthalt Gesundheit Dankschreiben Publikationsversand Literaturstudien Jubiläen Publikationswesen Reflexion über Forschung Romanische Philologie Dialektelanguage Portugiesischlanguage Altfranzösischlanguage Italienischlanguage Vulgärlateinlanguage Südslawische Sprachen Braga, Teófilo Cornu, Julius Coelho, Francisco Adolfo Graz Madrid Rattazzi, Marie-Letizia (1881)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Carolina Michaëlis de Vasconcelos (13-s.n.). Sankt Radegund bei Graz, 22. 09. 1880. Hrsg. von Bernhard Hurch (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.274, abgerufen am 19. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.274.


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St. Radegund bei Graz 22 Sept. 80.

Verehrteste Frau!

Wie tadelnswert bin ich, das alte Bis dat qui cito dat Ihnen gegenüber nicht beherzigt zu haben. Als ich Ihre wertvolle Sendung und Ihren lehrreichen, liebenswürdigen und ausführlichen Brief erhielt, verschob ich, gerade sehr beschäftigt, die Antwort um einige Tage, damit sie nicht ganz unwürdig ausfiele. Inzwischen wurde ich aber krank und zwar in dem Grade, daß es mir unmöglich war, mich mit irgend welcher Correspondenz zu befassen. Ich hoffte, Sie würden annehmen, daß ich bei Ankunft Ihres Pakets mich schon auf der gewohnten Reise befunden hätte. In der That bin ich aber erst seit 7 Wochen von Graz abwesend und bin durch die vorgenommene Wasserkur zunächst noch anfälliger und schreibeunfähiger geworden. Ich benutze eine etwas gängigere physische und psychische Disposition um mich endlich der drückenden Verpflichtung zu erledigen, bitte aber nicht zu vergessen, daß ich eigentlich noch Patient bin und zwar ein solcher, der wie Sie schon erfahren haben, auch in besseren Tagen nur miserable Briefe fertig bekommt.

Empfangen Sie meinen allerherzlichsten |2| Dank für die übersandten Bände. Leider war ich, wegen meines Gesundheitszustandes, bis jetzt noch nicht in der Lage, sie durchzunehmen oder gar in Ihrem Sinne zu "verbrauchen". Nur in das Vorwort zu den Quinhentistas habe ich hineingeblickt und war allerdings baß erstaunt da zu finden, daß bei den Italienern das Cinquecento das 15te Jahrhundert bedeutet. Ihr Urtheil über Braga scheint mir auch darin, was mir von dessen Werken schon bekannt war, durchaus ein treffendes; freilich weiß ich nicht, welchen Standpunkt ich persönlich zu ihm einnehmen soll. Denn einer solchen Kritik, wie Sie sie als notwendig hinstellen, bin ich ohne die erforderlichen Hülfsmittel, die großentheils überhaupt im Ausland schwer zu beschaffen sein werden, vollkommen unfähig; auch habe ich weniger die Absicht gehabt, mich mit dem Anteil (bes. dem rein historischen) einzulassen, als den Rahm abzuschöpfen, um ein Bild von den hauptsächlichsten Strömungen und Erscheinungen vorzuführen.

Es scheint mir nämlich, als ob wir Romanisten – sowohl als Schriftsteller, wie als Universitätslehrer – gewisse Gebiete welche doch auf unsere Beachtung Anspruch haben, allzusehr vernachlässigen. Das Altfranzösische nimmt innerhalb unserer Studien einen unverhältnismäßig großen Raum ein. Vielleicht sind Sie mit mir |3|einer Meinung, ich kann mich über diesen Gegenstand gegenwärtig nicht weitläufiger auslassen, werde aber nächstens Gelegenheit nehmen, dies öffentlich zu thun. Von der neuesten Litteratur nicht blos der Portugiesen, Spanier u.s.w. sondern selbst der Franzosen pflegen wir immer und überall abzusehen, sie ganz den Journalisten preiszugeben, sie einer wissenschaftlichen Betrachtung für unwürdig oder unfähig zu erklären. Nun ist es aber meine Ansicht, daß - ganz abgesehen von dem ungeheuren praktischen Nutzen, den ich der eingehenden Beschäftigung mit dem gegenwärtigen Geistesleben der Romanen liegt - der richtige Weg der Wissenschaft der vom Gegenwärtigen zum Vergangenen ist. Für das Sprachliche dürfte der jetzt anerkannt sein, kaum für das Litterarische. Dieses Paradoxon will ich ebenfalls hier nur andeuten, in der Hoffnung, daß Sie ungefähr von dem Ort des Interesses, welches ich an der neueren und neuesten portugiesischen Litteratur nehme, eine Vorstellung haben werden. Ihre Angaben in Bezug auf diese Litteratur sind mir höchst schützenswerth; meine Kenntnis derselben ist bis jetzt weit unbedeutender, als Sie vermuten. Das Büchlein v. Marie de Rattazzi über Portugal1 kenne ich nicht, ich errathe seinen Charakter, da mir ein ähnliches derselben Verfasserin über Spanien zu Gesicht gekommen ist, das von den gröbsten Irrtümern wimmelt. Wie steht es denn mit Braga's Urtheilen über die Neueren? Sind Sie |4| fein und zutreffend? – Sie fragen, ob ich im Stande sei, moderne Lyriker zu lesen. Warum nicht? ich bin durchaus nicht unempfänglich gegen Lyrik; aber ich halte es allerdings für das Allerschwerste die Lyrik eines andern Volkes richtig zu würdigen, völlig zu genießen. Und aus diesem Grunde wünschte ich zunächst Romane und Sittenbilder kennen zu lernen. Julio Diniz war mir bisher sehr lehrreich und erfreulich; ich werde auch das Übrige von ihm noch lesen.

In Bezug auf die Gegengeschenke bitte ich nur sich möglichst ungenirt auszuprechen; wenn Sie für den Vok. des Vulgärlateins einen bestimmten Abnehmer im Auge haben, so werde ich denselben sofort von Leipzig aus nach Porto senden lassen. Vielleicht kann ich einer Bibliothek dort damit dienen? Meiner Meinung nach werden übrigens junge Leute, wenn nicht philologisch tüchtig geschult, durch mein Buch leicht irregeführt. Ich rede nicht von den zahlreichen Einzelnheiten, die ich überhaupt jetzt ganz anders darstellen würde, sondern von der Intention, die dem Ganzen zu Grunde liegt und die man befremdlich oft mißverstanden hat. Es erfüllt mich mit Betrübniß, in wie unkritischer Weise meine "Bausteine" oft benutzt worden sind und ich kann nicht umhin, mich selbst dafür einigermaßen verantwortlich zu machen.

|5|J. Cornu ist wohl noch in Portugal; er hat mir vor 2 Monaten einmal eine Postkarte geschrieben, ein längerer Brief aber, den er mir versprochen, steht noch aus. Haben Sie den Kollegen gesehen? Auch von Coelho habe ich keine Nachricht erhalten; Sie sehen, die Briefsünden, die ich an dem Einen begehe, rächt an mir der Andere.

Über das Camoensfest habe ich merkwürdigerweise in keiner deutschen Zeitung oder Zeitschrift ausführlichere Mittheilung gefunden, wohl aber in ausländischen. In diesem entlegenen Winkel habe ich das Festblatt Camões welches zu Porto erschienen ist, zu Gesicht bekommen; ein Badegast führte es mit sich.

Wenn ich nicht irre, habe ich Sie schon einmal gefragt, ob denn eine Iberia, wie sie Coelho, plante, nicht doch schließlich irgend welche Aussicht auf Verwirklichung hätte. Natürlich müßte die Sache nicht einseitig von den Portugiesen ausgehen, sondern Spanier, Katalanen und Portugiesen sie zugleich in's Leben rufen. Halten Sie eine Verständigung und ein einträchtiges Vorgehen zwischen den Hauptnationen der Halbinsel für ganz unmöglich? Freilich fehlt es in Madrid|6| an eigentlichen Philologen, aber doch nur weil der erste Anstoß zu diesen Studien fehlt, ich möchte sagen die Gelegenheit. An wissenschaftlicher Kraft fehlt es sicherlich nicht, es ist nur bedauerlich, auf welche unfruchtbare Bahnen dieselbe oft gelenkt wird. Für Sie, als geborene Ausländerin, wäre es vielleicht doch am Leichtesten, irgend welche Verbindung zwischen Madrid und Lissabon - Porto herzustellen, aus der dann irgend Segensreiches hervorspränge. Ha[l]ten Sie gar keine Beziehung zu Madrider Schriftstellern? – Allein ich fürchte, diese Iberia, von der ich auch schon mit Spaniern geredet habe, ist eine fixe Idee, an der ich leide, und Sie lachen mich deshalb aus.

Ich hätte Ihnen noch so vieles zu schreiben; aber einerseits werden Sie dieser ungeordneten Ergüsse müde genug sein, andererseits will mir die Feder nicht mehr recht vorwärts, auch in nichtfigürlichem Sinne. Wir sind nämlich von einem solch lieblichen Herbstwetter beglückt, daß meine erstarrten Finger die Feder kaum halten können. Glücklich Sie!

Empfehlen Sie mich Ihrem Gatten bestens und üben Sie Nachsicht gegen Ihren hochachtungsvollst ergebenen

H. Schuchardt


1 Rattazzi (1881), die autorisierte Übersetzung des oben bereits genannten französischen Werks von ihr: Portugal à vol d'oiseau.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Universität Coimbra, Portugal (Lehrstuhl für Germanistik). (Sig. s.n.)