Lorenz Diefenbach an Hugo Schuchardt (04-02297)

von Lorenz Diefenbach

an Hugo Schuchardt

Frankfurt am Main

06. 07. 1869

language Deutsch

Schlagwörter: Rätoromanische Literatur Literarisches Centralblatt für Deutschlandlanguage Rätoromanische Sprachenlanguage Griechischlanguage Deutsch Graubünden

Zitiervorschlag: Lorenz Diefenbach an Hugo Schuchardt (04-02297). Frankfurt am Main, 06. 07. 1869. Hrsg. von Luca Melchior (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2572, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2572.


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Frankfurt M (Uhlandstr. 24) 6/VII 69.

Geehrter Herr!

Ihr letzter freundlicher Brief lässt mich aufs Neue vermuthen, daß ich Ihnen wenig Ersprießliches bieten kann. Dennoch möchte ich Ihnen vor Abschlusse Ihres Werkes über das Raetoromanische eine Reihe Notizen aus diesem Gebiete mittheilen, die in meinen Romanischen Brouillons zerstreut sind, für deren Zusammenstellung ich aber gegenwärtig nicht wol Muße finde. Vielleicht können Sie mir gelegentlich einen letzten Termin dafür bezeichnen.

Ihr raetor. daschlauna kenne ich nicht, jedoch andre Abll. von dascha &c. (Tannenreisig), dessen Etyͤmon u ethnischer Urgrund noch näher zu untersuchen ist. – Sie werden die vielleicht auch stofflich identischen Syͤnonyͤmen 1) mail. piém. padov. genues. resca, róm. auch aresca 2) ital. resta, aresta (lat. arista) raetor. resta, rasta neben graista 3) lisca, Liesch &c. noch genauer verfolgen;1 ich bin auf Ihr Ergebniss gespannt.

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lisca ist vielleicht zu trennen. Bei d. rîste, reisten macht die Vocallänge bedenklich. Bei ares-ca, -ta tritt überall auch die Bed. der Gräte auf (vgl. granne u. dgl.). – Merkwürdig ist Ihr biglier; es fragt sich hier, u dann auch bei blêr & c., ob Ableitung oder Zusammensetzung? Das gemeinsame -êr &c. darf keinesfalls übersehen werden. Ich trenne das auch comask. gerr = guari, guère &c (vgl. Diez I v. Guari2).

Der latein. Lexikograph Freund3 aus Breslau besuchte mich vor vielen Jahren auf seinem Wege nach Graubünden, wo er romanistische Forschungen anstellen wollte. – Pirona kenne ich leider nicht.

Traurig, daß der Barbarenwahn der Römer uns auch über die Raetische4 + Vindelitische5 Sprache im Dunkeln gelassen hat! Diese ist doch wol das von Ihnen gemeinte "dritte Sprachgebiet"? Als Alamannen & Baiuvaren es occupierten, war es wol schon ganz romanisiert? Sonst könnte jenes dascha |3| & Co. durch seine (mögliche) Beschränkung auf die örtlichen rom. & deutschen Nachfolger der raeto-vindel. Sprache auf seinen Ursprung aus dieser verwiesen werden – wenn nicht das Etymon eher deutsch ist. Steub6 & Bacmeister7 sind noch kaum zu sichreren Ergebnissen gekommen, als der selige Livius.

Staub, dessen lehrreiches "Brot"8 unsere Bibliothek angeschafft hat, berührt kaum einmal rom. Wörter, wie ich mich vorhin noch überzeugte. Stengels Buch9 wurde in der letzten Nr. des Centralbl. glimpflich kritisiert.10

Bei dem von Ihnen erwähnten Einfluße der Consonanten auf folgende Vocale fällt mir der Gegensatz der Einwirkung der – im Nhd. vorhergehenden, im gegenw. Griechischen folgenden – Vocale (heller oder dunkler) auf die Kehl- & Gaumen-laute ein.11

Hochachtungsvoll empfohlen Ihr ergebenster

Lorenz Diefenbach


1 Vgl. den vorausgehenden Brief und dessen Befußnotung.

2 Diez ( 31869: 228-230) ist zu lesen: "Guari it., pr. cat. gaire, fr. guère, guères, ein synonym des lat. multum; dagegen neuwald. gaire für lat. quot. Der Provenzale hat außer gaire noch ein ähnliches wort, zusammengesetzt aus grandis res, granrén, ganrén, und mit oder ohne negation gebraucht, wogegen gaire nur dubitativ oder mit non negativ steht. Als partitiva stimmen beide nach bedeutung und construction ganz zusammen und werden z. b. wie adjectiva ohne weitere vermittlung dem substantiv vorgesetzt: ganren vegadas, gaire companhos wie it. guari tempo. Gleichwohl sind sie nichts weniger als identisch, indem der anlaut in gaire, wie das uralte fr. waires(z. b. in den Serm. de Bern .), das lothr. vouère, das pic. wère, das wallon. wair und das chw. uèra zur genüge lehren und auch das it. guari bestätigt, deutsches w vertritt. Aber welches ist das deutsche wort? Buchstäblich passt kaum ein anderes als das ahd. wâri verus, aus dem sich it. guari, prov. mit versetztem i dem brauche dieser mundart gemäß guaire gaire gestalten konnte: man muß es adverbial im sinne des lat. probe genommen haben, wie denn auch das sbst gawâri probitas bedeutet. Die prov. phrase non o pretz gaire wäre hiernach 'ich schätze es nicht wahrhaft, nicht sehr'. Von 'sehr' aber bis 'viel' ist nur ein kurzer schritt. Zsgs. ist fr. naguère = il n'a guère, it. non ha guari 'es ist nicht lange her'; piem. pa-vaire wenig, nicht viel = pr. pas guaire. Im altfr. guer-soi viel durst (beim zutrinken) Ruteb. I, 93, vgl. 239, Ren. I, p. 120 zeigt sich guère ganz in posi­tivem sinne. Für guari findet sich in der comask. mundart gerr, sicher kein eignes wort, sondern, wie auch P. Monti meint, aus altit. gueri (das aber zuerst in gheri übergieng). – [Die vorstehende deutung von guari aus wâri kann sich des vorwurfes nicht erwehren, daß sich ein dem romanischen entsprechender deutscher gebrauch des urwortes nicht nachweisen läßt. Aber noch ein anderes deutsches wort verdient genannt zu werden. Mhd. unweiger heißt 'nicht viel', z. b. diu stunde was unweiger lanc = it. l'ora non fu guari lunga.Das einfache weiger muß also'viel' bedeutet haben, und so bemerkt man es einmal im althochd., worin ne weigaro das lat. non multum ausdrückt, s. Mhd. wb. III, 556. Eine merkwürdige unterstützung dieser etymologie gewährt die älteste prov. form gaigre Bth. v. 13, die das deutsche wort so vollkommen wieder gibt wie möglich. Ist dies die richtige lösung? Wenn sie es ist, so muß das nur in wenigen stellen vorliegende weigar sehr volksüblich gewesen sein, da es in alle roman. sprachen einzudringen vermochte.]".

3 Wilhelm Freund (Kempen/Kępno 1806-Breslau 1894), Altphilologe, Lehrer und Schuldirektor an jüdischen Schulen, der 1853 zwecks der Erlernung der dortigen Idiome nach Graubünden und Tirol reiste.

4 Antikes Volk, das in den mittleren Alpen zwischen Trentino, Tirol, bis nach Graubünden und Süddeutschland angesiedelt war.

5 Die Vindeliker waren ein keltischer Stamm, der zwischen Bodensee und Inn angesiedelt war und der 15 vor Christi von den Römern unterworfen wurde. Die Gebiete der Vindeliker und Raeter wurden als Provinz Raetia vereinigt.

6 Ludwig Steub (1812-1888), Schriftsteller und Ethnograph. Es ist nicht klar, worauf sich Diefenbach bezieht; gemeint sein könnten Steubs Werk über die Urbewohner Rätiens (Steub 1843) bzw. seine Ethnographie Rätiens (Steub 1854).

7 Lukas Adolf Bacmeister (1827-1873), Philologe, Germanist und Schriftsteller. Es ist nicht klar, welches Werk gemeint ist, wahrscheinlich sein als erster Band der Alemannische[n] Wanderungen geplantes Ortsnamen der keltisch-römischen Zeit. Slavische Siedlungen (Bacmeister 1867).

8 Staub (1868).

9 Stengel (1868).

10 Das Werk Stengels wurde in der Tat in der Ausgabe vom 26. Juni 1869 des Literarische[n] Centralblatt[s] für Deutschland kritisch rezensiert (vgl. o. V. 1869: 801-802).

11 Vgl. die palatale Realisierung [ç] und [ʝ] als Allophone von [x] respektive [ɣ] vor den Palatalvokalen [ɛ] und [i] im Neugriechischen, wohingegen im Deutschen [x] und [ç], nach zentralen und hinteren respektive nach vorderen Vokalen in komplementärer Distribution stehen.

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