Hugo Schuchardt an Adolf Mussafia (24-SM13)

von Hugo Schuchardt

an Adolf Mussafia

Graz

24. 04. 1877

language Deutsch

Schlagwörter: Korrespondenz Diezstiftung Literarisches Centralblatt für Deutschland Beilage zur Allgemeinen Zeitung Grazer Tagespost The Academy Österreichische Akademie der Wissenschaften (Wien) Mitgliedschaft Universität Graz Universität Halle Bittschreiben Publikationsversandlanguage Italienisch Paris, Gaston Ascoli, Graziadio Isaia Tobler, Adolf Gröber, Gustav Zarncke, Friedrich Rhys, John Lichem, Klaus/Würdinger, Wolfgang (2015) Storost, Jürgen (1989) Schuchardt, Hugo (1877)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Adolf Mussafia (24-SM13). Graz, 24. 04. 1877. Hrsg. von Klaus Lichem und Wolfgang Würdinger (2015). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2348, abgerufen am 19. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2348.


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Graz, 24. 4. 77.

Dear friend!

How do you do? And Mrs. Mussafia? Do you understand still german? - Wir wollen sehen.

Ihre und G. Paris' Autographen werden in 100 Jahren zu ungeheuer hohen Preisen versteigert werden; und die Briefe eines P.T. Schuchardt werden von den glücklichen Käufern zum Einwickeln jener benützt werden. Seit einigen Monaten überschwemme ich den gebildeten orbi terrarum mit Briefen.

Ascoli schrieb mir, dass ihm "fu mandato da Berlino un' autorevilissima lettera Viennese che ha la data del 12. aprile"1. Ich weiss nicht, warum Ascoli nicht gesagt hat: "che fu scritta, essendo già Febo co' suoi cavalli al ventesimo grado del celestiale montone pervenuto", das wäre noch deutlicher gewesen. Sie sehen, ich beschäftige mich gerade mit dem blumigen Stil Boccaccio's2 und dies hat mir es denn auch ermöglicht, in Ihnen den Urheber jenes Briefes zu entdecken. Im Allgemeinen muss ich jetzt mit meinen Konjekturen etwas vorsichtig sein, auf der Herreise von Wien ist mir Wunderbares begegnet. Ein Fremder sass mir gegenüber und nachdem ich lange seine Aussprache, sein Gesicht und sein Wesen studirt hatte, beschloss ich, es müsste ein Schwede sein. Wir kommen an einem Wasserfall vorüber. "Schöner Wasserfall das!" - "Nun sind Sie ja aus dem Lande der Wasserfälle!" - Verwunderung. - "Sie sind ja doch Schwede?" - "Entschuldigen Sie, ich bin Grieche." Tableau. Selbst ein ältlicher schmutziger Herr, der uns den ganzen Weg über von den Vorzügen des Cacao Plooker vor dem Cacao Suchard unterhalten hatte, fuhr aus seinem Halbschlummer empor und rief aus: "Was, Sie sind ein |2| Neugrieche?!" - Seitdem fange ich an, im Konjiziren sehr vorsichtig zu sein.

Der besagte 'autorevolississimo' Brief nun scheint einige Einwirkung auf Ascoli gehabt zu haben. Ascoli meldete mir zuerst, er wolle ein sotto-comitato bilden. Ich antwortete ihm, er möchte das nicht thun, sondern ein comitato bilden. Er wiederum: meinen warmen und ehrenhaften Vorstellungen nachgebend, wolle er kein sotto-comitato bilden, sondern sich ganz neutral verhalten. Ich erkläre mich über das Letztere tief betrübt Er wiederum: er wolle doch ein sotto-comitato bilden, er habe einen Brief gefunden, aus dem hervorgehe, dass seine Verpflichtungen gegen Berlin doch grösser wären, als er gedacht hätte. Ich wiederum: gut, aber Eines bitte ich mir aus, dass Ihr nicht auf selbständige Meinungsäusserung verzichtet, und Euch blind den Berlinern in die Arme werfet. Und im gleichen Sinne habe ich an andere italienische Romanisten geschrieben. Denn warum sollen diese in die inesorabile necessità, welcher Ascoli unterliegt, durchaus mit hineingerissen werden.3

Alles das wäre nicht nöthig; man könnte die Sache mit einer gewissen bonhommie, gegenseitigem Vertrauen, freundlichem Entgegenkommen abmachen, die des "bon vieux Diez" wahrhaftig würdig gewesen wäre, wenn irgend etwas davon sich bei Tobler fände. Aber er ist wie ein Shylock, der auf seinem Scheine steht, eine der besten Exemplare einer tête carrée die mir noch je vorgekommen ist; er fasst die Sache auf, wie ein preussischer Wachtmeister seinen Dienst. Seine Briefe, obwohl höflich und orthographisch, haben sonst einen gewissen Wachtmeisterstil an sich; dass sie keine Spur von Humor, Esprit, Genie oder irgend etwas dem ähnlichen aufweisen, möchte man ihnen wohl verzeihen, aber sie sind ohne Wärme und Billig-|3|keitsgefühl. Von einem bestimmten Programme sehe ich zunächst ganz ab; ich verlange nur Eines, werde das aber mit allen Mitteln und mit allen Worten verlangen: fair play. Wir sind keine Kinder, bei deren Spielen der welcher zuerst Etwas in die Hand bekommt, die ausschliessliche Gewalt darüber hat. Ich gebe zu, dass die Iniziative ihre Rechte hat, aber nicht so grosse wie Tobler denkt. Besonders in diesem Falle ist die Iniziative etwas Zufälliges, da es keiner grossen intellektuellen Anstrengung bedurfte um den betreffenden Fund zu thun. Nach Allem, was ich von deutscher Sprache weiss, ist in dem Berliner Aufruf nicht von " Festbeschlossenem" die Rede, sonst würde man ja auch nicht die in Gedanken gehabte Berliner Akademie auf jene Weise umschrieben haben. Tobler aber meint (gegen die Auffassung von mir, Gröber, G. Paris u.s.w.), es handele sich hier um Festbeschlossenes. Abgesehen aber davon muss ich nach dem was ich direkt und indirekt von Tobler erfahren habe, annehmen, dass auch über dasjenige, was noch gar nicht (-eben war Botteri4 bei mir und hat mir aus Rajberti's Viaggio d'un Ignorante vorgelesen; nach zweistündiger Unterbrechung fahre ich fort) ausgemacht ist, nur im Schoosse des Berliner Comités entschieden werden soll; car tel est le plaisir de Tobler. Nun wenn er das durchsetzt, so soll wenigstens sein Sieg ein Pyrrhussieg werden.

Ich werde unterdessen für das Materielle der Diezstiftung nach Kräften wirken. Wenn ich mich um die Realschulen bekümmern soll, so müssen Sie mir Exemplare schicken.- In der letzten Nummer des Centralblatts ist unser Aufruf abgedruckt, durch einige freundliche |4| Worte Zarncke's eingeleitet, der ihn sogar beredt nennt (wäre mir nur das doppelte versöhnen nicht entgangen). Auch in der A.A.Z. wird es schon gestanden haben. In der Grazer Tagespost hat schon vor einiger Zeit jemand über die Diezstiftung in meinem Sinne geschrieben, ohne dass ich weiss, wer. Mit England habe ich schon einige Unterhandlungen gepflogen; ich werde sehen, dass ich John Rhys (den ich an einer Recension seines Buches etwas zappeln lassen kann5) veranlasse, mit Layce, Atkinson, Nicol einen Aufruf in die Academy zu setzen.

Ma non godran quar di tal derrate

Questi ingrati meccanici, nemici

D'ogni leggiadro e caro adoperare.

Mit der Diezstiftung ist es nicht vollständig so gegangen, wie ich wünschte. Wenn nun auch die Mitgliedschaft der Akademie mir entgeht, so bin ich ganz ausser mir - schwöre die Wissenschaft ab und werde, wie schon gesagt, Phäake. Sagen Sie den Herrn wie unlogisch ihr Verfahren sei. Um jener Gefahr vorzubeugen, dass ein unbedeutender Mann in's Ausland zurückkehre, und neben einem Mommsen oder Curtius den Titel eines korrespondirenden M. d. Ak. führe, was schliesslich doch kein Unglück wäre, da der Sachverhalt bekannt wird -, könnte man möglicher Weise das Unrecht begehen unter zwei geeigneten Kandidaten dem gebornen Oesterreicher die Würde zu verleihen, dem Eingewanderten nicht. Also eine Inkongruenz bleibt |5| immer; Es frägt sich nur, welches die grössere ist. Will man überhaupt auf jenen Umstand Rücksicht nehmen, so müsste man entweder drei verschiedene Kategorieen aufstellen oder jedes inländische korrespondirende Mitglied könnte, wenn es nach allzukurzer Zeit in's Ausland übersiedelte, seines Titels verlustig gehen. Ist es denn nicht an und für sich möglich, dass geborene Oesterreicher nach deutschen Universitäten berufen werden? Der Schmidt'sche Antecedenzfall wird sicherlich geltend gemacht werden; Sie können zweierlei dagegen anführen 1) dass ich nicht Graz als Durchgangspunkt zu benützen die Absicht habe - da ich mich pekuniär sogar ein klein wenig schlechter stehe als ich in Halle die letzte Zeit mich stand; Oesterreich ist mir also Dank schuldig 2) dass so ungeheuer geringe Aussicht vorhanden ist, dass man mich in's Reich zurückberufe.*)

Wenn dieser Brief zum Theil etwas läppisch ist, so legen Sie ihn auf Brun de la Montaigne6 oder auf Vollmöller's7 Einleitung; vielleicht ist ihm diese Folie nicht ungünstig.

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So eben erhalte ich einen Brief von Gröber: grosse Unzufriedenheit seinerseits mit Tobler der auch auf die Comitémitglieder, soweit er sie nicht ganz in der Tasche hat, durchaus keine Rücksicht zu nehmen scheint. Ich würde Ihnen den Brief schicken, aber er ist so kritzlig geschrieben, dass er selbst für mich schwer zu lesen ist. Wenn ich aber je einen Moment geglaubt habe, gegen Tobler mich zu stark geäussert zu haben, so bereue ich das feierlichst.

Von ganzem Herzen

der Ihrige

H. Schuchardt

Können Sie mir vielleicht die Lunder Dissertation über das Rolandslied schicken (von wem; weiss ich nicht)?

Von Lotheissen erhalte ich den Anfang einer französischen Litteraturgeschichte des 178. Ihr hs

*) Sollte Sickel9 nicht etwa geradewegen derjenigen Umstände, welche meine Rückkehr in's Reich unwahrscheinlich machen, gegen mich stimmen?


1 Vgl. dazu Brief von >Ascoli an Schuchardt vom 20. April 1877: "Mi fu inoltre mandata da Berlino un'autorevolissima lettera viennese, che ha la data del 12 aprile e riduce il Comitato austro-ungarico, in quanto si distingua o separi dal berlinese, a una cosa di mera forma e opportunit…, che in effetto non dee portare ad alcuna conseguenza." In Lichem, Klaus & Wolfgang Würdinger. 2013. 'Die Korrespondenz zwischen Graziadio Isaia Ascoli und Hugo Schuchardt'. In Bernhard Hurch (Hg.) (2007-). Hugo Schuchardt Archiv; Webedition verfügbar unter: http://schuchardt.uni-graz.at/korrespondenz/briefe/korrespondenzpartner/254.

2 Im Sommersemester 1877 hielt Schuchardt eine dreistündige Vorlesung Über Boccaccio's Decamerone.

3 Zur Diskussion um die Diezstiftung vgl.: Storost, Jürgen.1989. 'Die Diez-Stiftung. I. Zur Gründungsgeschichte'. In. Beiträge zur Romanischen Philologie 28, 301-316.

4 Jakob Botteri war Landesoberrealschullehrer für Italienisch in Graz.

5 Schuchardt, Hugo. 1877. '[Rez. von:] Rhys, John, Lectures on Welsh philology'. In Literarisches Zentralblatt für Deutschland 28: 1250-1255 (Brevier-/Archivnr. 107).

6 Schuchardt spielt auf die folgende Publikation an: Mussafia, Adolfo. 1877.' Zu Brun de la Montagne, ed. P. Meyer'. In Zeitschrift für romanische Philologie 1, 98-106.

7 Karl Gustav Vollmöller (1848 - 1922), Romanist.

8 Lotheissen, Ferdinand. 1877. Geschichte der französischen Litteratur im 17. Jahrhundert, Erster Band. Wien.

9 Theodor von Sickel (1826 - 1908), Altphilologe.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Biblioteca Umanistica dell'Università degli studi di Firenze. (Sig. SM13)