Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (434-11188)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Marburg

24. 02. 1926

language Deutsch

Schlagwörter: Verlagsbuchhandlung Leuschner & Lubensky Universität Heidelberg Riegler, Richard Schürr, Friedrich Meyer-Lübke, Wilhelm Körner, Joseph Curtius, Ernst Robert Frings, Theodor Vossler, Karl Bertoldi, Vittorio Bonn Spitzer, Leo (1918) Spitzer, Leo (1922) Schuchardt, Hugo (1923) Spitzer, Leo (1928)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (434-11188). Marburg, 24. 02. 1926. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2290, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2290.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Marbg., 24. II. 1926.

Verehrter lieber Freund,

Sie wollen immer Dossiers gegen sich aufgetürmt haben und wollen dieselbe Wissenschaftlichkeit, die Sie sonst betätigen, auch gegen sich angewendet sehen. Wozu das? Wäre es nicht besser, im Riegler-Falle einem leicht verletzlichen Menschen entgegenzukommen, ohne sich langem Hin- und Herschreiben zu unterwerfen?

Und nun wollen Sie gar von mir Dokumente für Kränkungen (oder Gekränktheiten)? Gut, ich gehe drauf ein, aber bitte, wenden Sie keine Mühe und keine Seelenkraft an Widerlegung und Diskussion.

Ja, Sie haben mich wiederholt gekränkt; ich setze also die mir in lebhafter Erinnerung vorschwebenden Fälle dürr schlagwortmäßig her:

1) Rückzug der Empfehlung meines "Anti-Chamberlain" bei Leuschner-Lubensky, als ich ein Zitat aus dem Münchner Foerster nicht beseitigen wollte1

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2) die Äußerung, Sie wollten Schürr in Heidbg. durch eine Empfehlung meiner Person nicht "ins Gehege kommen" oder so,

3) der Dank an die "Schweizer Spender" des Brevier2

4) der ungenannte "Andere" in "Individualismus".3

Wollen Sie einen gemeinsamen Nenner für alle diese Punkte, und für alle anderen gravamina, die ich je hatte, so ist es der: Nicht bis ins letzte Teilnehmen an dem Freunde, der Öffentlichkeit gegenüber ein wenig scheu retirieren, eine gewisse Angst, sich selbst allzu viel zu exponieren. Ich weiß ganz genau, daß Ihnen an meiner Freundschaft gelegen ist und war, auch an meiner wissenschaftlichen Gefolgschaft (ist das arrogant?) – aber ich weiß nicht, ob Sie auch die Unannehmlichkeiten die mit einer Freundschaft verbunden sind, ebenso gern in Kauf nehmen. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätten Sie es ruhig (ich meine, ohne öffentlich Stellung zu nehmen) mit angesehen, daß ich mein ganzes Leben mich in wurmender Entrechtung und Mißkennung verblute, Sie hätten nur die Haltung gefunden: C'est comme ça, mon cher ami. Il faut en prendre son parti.

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Heute, wo meine Existenz ihre Gleichgewichtslage gefunden hat, wo ich erreicht habe soviel ich zu verdienen glaubte, sehe ich alle diese Dinge, die mich früher kränkten, sans amerlume. Ich erwähne sie nur auf Ihren ausdrücklichen Wunsch. Aber daß ich unter der öffentlichen Aufnahme des Sch.-Brev. durch Sie schwer gelitten habe, schwerer als durch alles, was je ein Meyer-Lübke in seiner seelischen Ohnmacht mir anhaben konnte, und daß Sie bisher dies öffentlich nicht wiedergutgemacht haben (auch neulich, als sich Ihnen Gelegenheit bot, durch das 'ein Anderer' échappé par la tangente sind), werden Sie wohl einsehen. Solche Dinge sind nun eben einmal da. Da gibt es kein Sich-in-Acht nehmen.

Aber nun, Schwamm drüber. Jeder Mensch muß wissen, wie viel er dem anderen geben und entgegenbringen kann. Wer sich nicht ganz 'ausliefern' will, bekommt eben auch nicht das ganze Herz des anderen Teils.

Der "Faust" ist eine belletristische Veranstaltung, die das faustische Streben in allen Wissenschaftsgebieten verdeutlichen soll – also das Ringen mehr als das Errungene. Den übermodernen Eindruck macht das Papier |4|und die ganze Ausstattung wohl, aber ist das übel? Ich glaube übrigens nicht, daß das Unternehmen sich halten wird.4 Vorläufig zahlt es kein Honorar, obwohl es das bei der Anwerbung der Mitarbeiter versprochen hat.

Bezüglich der Mussolini-Hetze (aktiv und passiv) habe ich einen Verdacht: gleichzeitig beginnen unsere Zeitungen auch über Deutschenhetze in Polen u. Tschechien zu berichten. Es liegt der Verdacht nahe (warum sollten plötzlich alle diese Staaten Deutsche drangsalieren?), daß da eine erregte öffentliche Meinung in Deutschld. erregt werden soll, auf die dann bei der Aufnahme Dtschlds. in den Völkerbund zur Erlangung einer Konzession (Anschluß Österreichs in irgend einer Form??) verwiesen werden kann. Ich mißbillige solche politische Handlungen nicht, verweigere ihnen nur meine Gefühlsmitschwingung. Die deutschen Gelehrten verweise ich deshalb auf das Kehren vor ihrer Tür, weil sie die Dinge vor ihrer Tür sehen und weil sie als Wissenschaftler zuerst mit dem Sichtbaren operieren sollten, bevor sie dem Gehörten, dem aus Zeitungen Gehörten ihren Glauben schenken. Erinnern Sie sich an den Hereinfall der 92 Intellektuellen bei dem Manifest, das viele 'per Hörensagen' unterzeichnet hatten?

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Das ist mir immer deshalb so unbegreiflich gewesen, weil ich selbst stets ganz für Freunde in die Bresche gesprungen bin (siehe Fall Körner, der mir manche Unannehmlichkeit eintragen kann) und weil ich gerade bei der Besetzung des Marburger Ordinariats an Curtius und Frings, auch Vossler Leute gefunden habe, die, ohne noch mit mir befreundet zu sein (wenigstens Curtius u. Vossler damals), den Kämpfermut aufbrachten. Was in letzter Linie wohl Riegler aufregen mag, ist, daß er sich als Stütze Ihrer 'Hausmacht' fühlt, aber, wenn er einmal den Mund auftut (er tut es ja selten), eins draufkriegt. Was mich oft aufgeregt hat ist, daß Sie mich zwar gern als Schuchardtianer sehen, selbst aber ungern als Spitzerianer gelten wollen. Ich weiß ganz genau, daß die gleiche Notwendigkeit sich nicht für Sie, wie für mich ergibt, weil eben Schuchardt groß und Spitzer klein ist und Schuchardt vor Spitzer kam, nicht umgekehrt. Aber in der Bedrängnis verwischen sich, müssen sich solche Größenunterschiede verwischen. Und Sie werden zugeben, daß es für eine Freundschaft nicht gut ist, wenn der eine Teil die Überzeugung |6|von den Grenzen der Freundschaft des anderen hat. Sagen Sie mir nun nicht, daß jene 4 obigen Punkte bedeutungslose Lapsus, Mißverständnisse usw. sind, daß Sie auch in allen diesen Fällen 'Rechtfertigungen' vorlegen konnten – daß diese Lapsus geschehen konnten, ist das Bemerkenswerte. Es gibt da nichts zu vermeiden, sich in Acht zu nehmen – daß bei freiem Sich-gehen-lassen zwischen Freunden so was passiert, ist traurig. Es gibt keine 'unschuldigen Äußerungen', es kann sie zwischen Freunden nicht geben.

Ich kenne meine Fehler: ich bin sehr eitel, rechthaberisch, wechsle gelegentlich in meinen Neigungen usw. – aber Hand aufs Herz, wissen Sie nicht sehr genau, daß ich für einen Freund kein Opfer scheue? Auch nicht das schwerste des Mannes: die Stellung in der Öffentlichkeit.

Sie können sagen: "ich [Schuch.] bin eine ruhige, objektiv gestimmte, nicht flackernde Natur wie Sie und ich liebe keine Exzesse" – aber sind Exzesse der Freundschaft nicht etwas ganz Besonderes? Ich gestehe gern, daß ich alle Wissenschaft nur als eine sehr magere Entschädigung für Menschliches betrachte und daß alles Urteil der Wissenschaftler mir sehr wenig bedeutete, wenn ein Freund in Frage stünde.

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Die Leichtgläubigkeit der Professoren ist fürchterlich. Dieselben Wissenschaftler, die in ihren Fächern hundertmal die Dokumente herumdrehen, glauben jede Tatarennachricht. Ein typischer Fall: durch die Zeitungen war ein Bericht gegangen, daß der ital. Lektor in Bonn, den M.-L. berufen hatte, Bertoldi (Verfasser der 'Herbstzeitlose', Studienkollege von mir) ein arger Fascist gewesen sei und Unruhen in Bonn unter den Studenten od. dgl. eingetreten seien. In unserer hiesigen Fak. kam das zur Sprache, allerdings nachdem ich von Bonn das förmliche Dementi aller dieser Behauptungen mir amtlich beschafft hatte. In der Fak. sagte ein geistreicher Physiker: "Ich gestehe gern, daß wir es alle geglaubt haben". Ich sagte ihm privat: "Ja wieso konnten Sie anno 1926, nach dem Weltkrieg, 'alles' glauben?" Es liegt eben so, man will Tatarennachrichten glauben, daher bekommt man sie auch.

Ich bleibe noch bis Ende März hier, hoffe also noch mehrfach von Ihnen Nach­richt zu erhalten.

Herzlichst ergeben

Spitzer


1 Dieser Umstand muß Spitzer insofern besonders verletzt haben, als er seinen Anti-Chamberlain ausgerechnet Hugo Schuchardt gewidment hat.

2 Schuchardt hatte ein Flugblatt zum Dank nur an die Schweizer Spender drucken lassen, nicht aber diesen Dank öffentlich auf Spitzer ausgedehnt.

3 In seinem Euphorion-Aufsatz "Individualismus" (1923) kritisiert Schuchardt schärfstens jene Forschungsrichtung, der Spitzer sich (vgl. etwa seine Besprechung des Haager Kongresses) unter 'Philologie') selbst zurechnet. Schuchardt erwähnt Spitzer darin allerdings nicht namentlich. Es geht Schuchardt um die Etablierung der Sprachwissenschaft, wobei er vieles an Gegenstandsdefinition gelten läßt, von Vossler bis Saussure, nicht aber die sogenannte Philologie.

4 Die Zeitschrift mußte noch 1926 ihr Erscheinen einstellen.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11188)