Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (377-11134)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

07. 12. 1923

language Deutsch

Schlagwörter: language Baskischlanguage Katalanischlanguage Französischlanguage Rumänisch Curtius, Ernst Robert Meyer-Lübke, Wilhelm Thurneysen, Rudolf Wechssler, Eduard Meillet, Antoine Jud, Jakob Steiner, Herbert Pușcariu, Sextil Vossler, Karl Spanien Bonn Thorn, Anders Christopher (1912) Thorn, Anders Christopher (1913) Meyer-Lübke, Wilhelm (1920)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (377-11134). Bonn, 07. 12. 1923. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2223, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2223.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


|1|

Bonn, 7. XII. 1923

Verehrter lieber Freund,

Nun, diese Primitiae sind wahrhafte Primitiae, Frühlings- nicht Altersfrüchte. Eine solche Konzentration und Zusammenpressung schwierigsten Stoffes, eine solch knappe Verbindung von historischer und deskriptiver Analyse ist wohl kaum noch gesehen worden. Wo bleibt da die sprichwörtliche Geschwätzigkeit des Alters? Ich beglückwünsche Sie zu dieser Kunstleistung!

Da ich selbst vom Baskischen zwar wiederholt genippt, aber nie wirklich getrunken habe, so überließ ich mich ganz Ihrer Führung u. will Ihnen daher die Punkte mitteilen, wo ich – zweifellos infolge einer Unfähigkeit – gestolpert bin u. nicht oder schlecht verstanden habe.1

§ 1-2 was bedeutet "allgemeine" und "besondere Bindung"?

4-5 warum das Etymon von seme nicht angeben?

10: bei ziezon sollte der Begriff des Zielzeichens (z) wieder eingeführt werden.

9.10. soll es nicht "imperfektiven zen" heißen?

16 l. heltze.ar.en

S.10 oben: l. "das auslautende -n"?

mitte: l. gesehen st. gesesehen

§ 20 l. z.i.e.z.ó.n st. z.i.e.z.ö.n?

|2|

Der Unterschied zwischen za1 u. za2 ist mir nicht ganz klar

24. am nächstens kat. fons a, z.B. in Alacant = fundus

26 bil- : welches rom. Etymon?

S.12 bei den ähnlicher Fall wie zan > zen?

S.13 zu "die erweiterte Form" wäre ein "s. unter c)" hinzuzufügen.

§ 38 zu Partizip statt Inf. vgl. etwa rum. de văzut

42 l. lan.ean?

S.18 Z.1. "ist" einzuschalten

§ 72 "mit" dem Zielzeichen und [dem Zeichen] der 3.Pers."

74 l. du selbst

79 dirade ist, soviel ich sehe nicht erklärt.

87.88 Erklärung dieses Futurs!

89 Elativ mißverständlich

92 ähnlich "ich habe dir gefehlt vor dir" volksfrz. je vous te donne un soufflet

"ebenso im Anlaut [l. Auslaut?], wo es (was?) für beide Geschlechter gilt" mir nicht verständlich.

95 l. aitzin.e.an. Vgl. asp. encontra mia, magy. mellettem

108 vgl. il eut de la compassion, ebenso ptg. tive in V. 21 Übersetzung l. wurde st. würde?

118 was ist das für ein futurales ke?

130,132 von "imperativischer" Entwicklg hatten wir nichts gehört (vgl. frz. que, rum. ?)

|3|

147 l. Jacques hire anaiea

157, 2 l. ioan

Zu V. 29 hambat wäre wohl Verweis auf 77 nötig, in V 30 zeiniek auf 77 und 8

Nun hätte ich aber noch einen Riesenwunsch: daß Sie auf dies erste Bändchen ein Secunditiae folgen ließen, das enthielte a) ein Register der behandelten Dinge (man hat z.B. vergessen, wo etwas behandelt wird, und findet trotz des 2 Bogen Umfangs im Formengewimmel nicht rasch das Gesuchte), b) eine krit. Bibliographie der behandelten Gegenstände, vornehmlich die Auffindungsorte Ihrer eigenen Äußerungen über ein Wort, eine Form usw. Auch Paradigmen wären zur Zuammenfassung sehr erwünscht.

Nun zu dem Inhalt Ihres Briefes. Curtius hat mir selbst mitgeteilt, daß er an Sie, M-L und Thurneysen geschrieben habe, aber dem an 2. Stelle Genannten mißtraue. Ich glaube aber doch, daß er mich wegloben wird, um mich weggelobt zu haben. Überhaupt, so schreibt Curtius, stünde die Sache günstig.

Das politische Moment scheint begraben oder nicht aufgewacht zu sein. Die Fakultät hat sich zwar noch nicht definitiv festgelegt, aber es besteht Aussicht, daß ich nach Wechssler genannt werde. Dann würde also die Berufung davon abhängen, ob die Regierung Wechssler zuerst beruft und ob dieser wirklich nach Abdera zurückkehren will.

|4|

Ich wage nicht zu hoffen. Bitte alles diskret zu behandeln. Meine s.z. Befürchtungen bezüglich "Tratsch" galten nicht Ihnen und dem Augenblick, sondern demjenigen, der Ihre Papiere einmal durchschauen wird. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Vernichtung meiner Scripta anordneten – nur Ihnen habe ich mich ja eröffnet.

Meillet hat mir 2 Briefe geschrieben, die die hohe "probité" dieses Gelehrten bezeugen. Er sei "désolé d'avoir été maladroit", er habe keinen "article de combat" schreiben wollen, er sei mit mir eins in der Betonung des die Völker Einigenden. Man kenne in Frkr. die Deutschen nicht und in Dtschld. nicht die Franzosen. Ein Pathos der Bescheidenheit geht durch seine Briefe, das wohl absichtlich die Siegerpose verschmäht.

Viel ententistischer ist der Brief Juds, den ich gleichzeitig erhalte. Er meint, ich renne bei ihm offene Türen ein, wenn ich ihn von der Unredlichkeit der franz. Haltung in der Rheinlandbewegung zu überzeugen suche – aber er gibt zu verstehen, daß wir s.z. Ähnliches im Flamland inszenierten. Worauf zu erwidern wäre 1) daß damals Krieg war 2) wir nie Tugendbolde zu sein behauptet haben wie die Entente, 3) man immer für ein Unrecht einen Präzedenzfall finden kann. Weiters spricht er von der tatsächlichen Zahlungsunwilligkeit der dtsch. Industriellen, worin er ja recht hat. |5|Er wollte eine Einladung für mich nach Spanien bei Griera durchsetzen – aber da er nichts schreibt, setze ich voraus, entweder daß ihm sein Wunsch nicht in Erfüllung ging oder daß er mir meine Darstellung der Vergewaltigung Bonns durch die französisch behüteten Sonderbündler übelgenommen hat.

Daß H. Steiner je seine Arbeit über Sie beenden würde, halte ich für ausgeschlossen.2 Er ist ein Mann, der in jungen Jahren dem Kleinwinzigen zustrebt, eine noterella in einem Jahr, eine Rezension alle heiligen drei Zeiten. Das ist dann immer fein ziseliert, aber eben eine Nippsache.

Thorn ist jener Schwede, der über Les dénominations du cordonnier,3 Sartre-Tailleur,4 racemus-uva etc. gehandelt hat u. sich jetzt, allerdings wohl vergebens, um die Professur in Gothenburg bewirbt.

Das Wort "synthetisch" hat wohl zwei Gebrauchsweisen, 'Wissen zusammenfassend' und 'Zusammenhänge sehend'. Ersteres ist M-L (auch wohl an der Stelle Puşcarius), das zweite Vossler. Übrigens habe ich keine synthetische Begabung im Sinne M-Ls und daher kann ich auch die Symbolik, die P. an jener Stelle andeutet, nicht einsehen.

Ich freue mich sehr auf Ihre Einführung. Aber erwarten Sie keine Beurteilung von mir, der ich Ihnen auf den baskischen Saumpfad vorläufig nicht folgen werde können. Premièren liebe ich tatsächlich – nun habe ich schon seit 4 Jahren keine theatermäßige gesehen!

|6|

Der Gegensatz historisch-psychologisch paßt mir auch nicht. Er steht allerdings in Ihrer Saussure-Rezension. Ebenso habe ich M-L davon abgebracht, in der 3. Aufl. seiner Einführung5 Biologie und Paläontologie zu scheiden:

Gegen den clamare-Artikel M-Ls werde ich opponieren und den schematisierten Begriff des Bedeutungslehnwortes etwas zu klären suchen.

[Ende fehlt]


1 Die Korrekturstellen zu den Primitiae enthalten Randanmerkungen Schuchardts im Brief Spitzers.

2 Tatsächlich ist keine derartige Arbeit Herbert Steiners zu Schuchardt bekannt.

3 Anders Christopher Thorn, Quelques dénominations du "Cordonnier" en français. Etude de géographie linguistique. Braunschweig: Westermann 1912.

4 Ders., Sartre-tailleur. Étude de lexicologie et de géographie linguistique. Lund: Gleerup und Leipzig: Harrassowitz 1913.

5 Wilhelm Meyer-Lübke, Einführung in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft. 3. Auflage. Heidelberg: Winter 1920.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11134)