Moses Gaster an Hugo Schuchardt (2-3572)

von Moses Gaster

an Hugo Schuchardt

London

23. 12. 1886

language Deutsch

Schlagwörter: Lexikographie Etymologie Sprachkontaktphänomenelanguage Rumänischlanguage Ungarischlanguage Latein Cihac, Alexandru (1879)

Zitiervorschlag: Moses Gaster an Hugo Schuchardt (2-3572). London, 23. 12. 1886. Hrsg. von Luca Melchior (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1492, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1492.


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London 23.XII.86
19 Brondesbury Villas
Kilburn. NW.

Sehr geehrter Herr Prof.!

Es freut mich, dass sich mir jetzt die Gelegenheit bietet, mit Ihnen der sich unter den Romanisten am meisten für unsere rumänische Sprache u. Literatur interessirt, in Verbindung zu treten.

Ich beeile mich umgehend Ihr Schreiben zu beantworten.

Vor einigen Jahren |2|ist eine Monographie über die rum. Elem. im Magyarischen erschienen. Ich kann mich augenblicklich auf den Namen des Vf. nicht besinnen1

Ich habe hier meine Bibliothek nicht zur Hand. In einigen Tagen jedoch werde ich Ihnen Namen u. Titel genau mittheilen.

Dass der ungarische Theil von Cihacʼs Wörterbuches2 einer gründlichen |3|Revision bedürfe, ist auch ganz meine Ansicht u. ich glaube sie wäre auf das ganze Werk auszudehnen. Bei dem vielen Richtigen, das es enthält, ist auch mindestens ebensoviel Unrichtiges darin. Die erste Aufgabe wird aber wohl die des Sammelns des rum. Sprachschatzes sein, u. die genaue Angabe der Heimath eines jeden Wortes.

Prunc3 ist schwerlich mit ung. poronty4 zusammenzubringen. Weder begrifflich noch phonetisch! Das Rum. |4|behält die ung. Worte im Allgemeinen unverändert. Ich hatte an poroboc5, ein altrum. nun ganz vergessenes Wort gedacht, welches vollkommen die Bedeutung von Prunc hat, das dessen Stelle eingenommen. Prunc ist nämlich relativ modern u. ist mir in der Literatur des XVI. u. XVII Jhnts nicht aufgestossen. Phonetische Schwierigkeiten für die Ableitung prunc = poroboc, bleibt; aber auch von parvunculus ist es schwer abzuleiten. Die Jugend des Wortes scheint ein lat. Etymon auszuschliessen.6

Ist meine Beseitigung der thracischen Theorie aufrecht zu erhalten?

Hochachtungsvoll

ergebenst

M. Gaster


1 Es handelt sich um Edelspacher (1876) , wie es im nächsten Brief ( 3573 vom 20.01.1887) angegeben wird.

2 Cihac (1879).

3 ‘Neugeboren, Babyʼ; die etymologische Vorschlag = ung. porotny findet sich in Cihac (1879:522); die Etymologie des Wortes ist noch nicht endgültig geklärt; in Ciorănescu (2007:642f.) wird sie als „Origine incertă. Pare se ducă spre nu sl. *prątče, dim. al lui prątu „nieluşă“ […]. Celealte explicaţii nu sînt convingătoare; din mag. porotny „cuibar“ = sl. porodŭ „naştere“ (Cihac, II, 522; Tiktin) […]“.

4 Historisch ‘Brut, junge Brutʼ, heute aber in der Bedeutung ‘Hosenmatz, Balgʼ.

5 ‘Neugeborenʼ.

6 Und doch wurde ein lateinisches Etymon von Puşcariu (1922:602f.) gefolgt von Drăganu (1931:260) und vom REW (51972:564) vorgeschlagen, aus lat. puerunculus, reduziert zur Form *pueruncus, welche aber laut Rosetti (1938:161) „nu are şanse de a fi existat“.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 3572)