Hugo Schuchardt an Jan Baudouin de Courtenay (20-356)

von Hugo Schuchardt

an Jan Baudouin de Courtenay

Graz

29. 01. 1886

language Deutsch

Schlagwörter: Dialektologie Kaiserliche Akademie der Wissenschaften (Wien) Kres Klassische Philologie Slawistik Germanistiklanguage Slowenischlanguage Slawische Sprachenlanguage Rumänischlanguage Altkirchenslawischlanguage Lateinlanguage Ungarisch Schuchardt, Hugo (1886) Asbóth, Oszkár (1886) Schuchardt, Hugo (1886) Schuchardt, Hugo (1886) Asbóth, Oszkár (1886)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jan Baudouin de Courtenay (20-356). Graz, 29. 01. 1886. Hrsg. von Wolfgang Eismann und Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1279, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1279.


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Graz, 29 Januar 1886

Hoch verehrter Herr Kollege!

Soeben erhalte ich Ihre neue Sendung und danke ihnen herzlichst. In den früher erhaltenen Schriften habe ich schon gelesen; Klodič’s – Abhandlung über das Venezianische Slowenisch durchgemacht, auch Ihre über die Wocheiner Mundart begonnen. Ich gestehe dass es mir schwer wird, Ihre feinen phonetischen Abstufungen mir vorzustellen; mit dem Ohre würde ich sie gewiss auch nicht erfassen. Z.B. von den Mittelvokalen ɷ und є (S. 48) haben wir zunächst Halbvokale: ъ und ь, die aber nun wieder reducirt werden können z.B. in tьmá (S. 49). Wie unterscheidet sich denn dieses von dem erweichten t’? |2| Ferner wenn in wo (S. 49 unten) das w ein reducirtes ist, wie wir Deutschen es so vielfach sprechen, so kann ich mir ein reducirtes d in zda nur sehr schwer denken, d. h. ein geflüstertes.

Wollen Sie nicht bald einmal wieder in diese Gegenden kommen und Ihre Dialektstudien fortsetzen? Eine slowenischeDialektologie wenn auch nur in breitesten Zügen, wäre eine sehr erwünschte Gabe. Es scheint dass übrigens doch sich mehr Arbeiten auf diesem Felde einstellen. Der Wiener Akademie wurde neulich eine Arbeit über das Karst-slowenisch vorgelegt. Ein früherer Zuhörer von mir |3| der Redakteur des Kres1 (welcher von nun an als wissenschaftliche Vierteljahresschrift erscheinen soll) will seit Jahren über seinen Heimathsdialekt arbeiten; er kommt aber nicht dazu. Übrigens ist die Thätigkeit der Slawen immer noch eine bedeutendere als die der Deutschen in Steyermark; über die steirischen Dialekte existirt bis jetzt noch nicht eine wissenschaftliche Arbeit.

Von Ihren Schriften besitze ich Nichts als was ich Ihrer Güte* verdanke; das erklärt sich theils daraus dass ich bis vor Kurzem mich nicht mit Slawisch|4| beschäftigte theils aus dem von Ihnen Отчеты I, 20 erwähnten Umstand (вездѣ жаловались мнѣ на трудность литературнаго сообщенiя съ Россiею usw)

Erlauben Sie Ihnen eine Etymologie zu unterbreiten die ich auch andern schon mitgetheilt habe: rumän.crăciun = Cristi je = junium (jejunium; rumänajun heisst “Vorabend”). Aus dem Rumänischen ging das Wort in’s Altslowenische über; von da in die andern Slaw. Spr. Man hat mir die Vocalisierung des altruss. Koročun entgegengehalten; ich denke die alte Correspondenz: altslow.Kra- = Kьros, Koro- (Krava = Korova) hat auf das Fremdwort Kračun eingewirkt So ist z. B. aus der Correspondenz altir. K = altkymr. p (= urkelt. qv), altir. coreair = kymr. porphor = lat.purpura zu erklären Was meinen Sie dazu?2

Mit besten Grüssen

Ihr ergebener

H Schuchardt

*also vor der vorletzten Sendung besass ich Nichts


1 Kres, slowenische Zeitschrift, die als künstlerische und wissenschaftliche Monatsschrift seit 1881 in Klagenfurt herausgegeben wurde. Ab 1886 erschien sie vierteljährlich als rein wissenschaftlich-didaktische Zeitschrift, musste aber Ende 1886 wegen zu geringer Abonnentenzahl ihr Erscheinen einstellen. Bei dem Redakteur handelt es sich um Jakob Sket (1852-1912), der in Grazklassische Philologie, Slawistik und Germanistik u.a. bei J. Schmidt und G. Krek studiert, aber auch Lehrveranstaltungen von H. Schuchardt besucht hatte.

2 Schuchardt kritisierte in seiner Rezension von Oszkár Ásbóths Beitrag „Slawisches in der ungarischen christlichen Terminologie“ (in ungarischer Sprache), den dieser in der ungarischen Zeitschrift Nyelvtudományi Kőzlemények (Sprachwissenschaftliche Mitteilungen) Bd. XVIII, 1884, S. 321-427 veröffentlicht hatte, dessen Annahme, das ungar. Wort karácson „Weihnachten“ sei ursprünglich slawisch: „So viel ich sehe, muss dieses Wort ursprünglich rumänisch sein“ (Schuchardt, „Ásbóth, O., ‘Szlávság a magyar keresztény terminologiában’ und Volf, Gy., ‘Kiktől tanúlt a magyar írni, olvasni?’“, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie VII, 1886, [Brevier-/Archivnr. 193] , S. 152-157, hier: S. 154). Daraufhin entspann sich eine Auseinandersetzung, von der auch die nächsten Briefe bestimmt sind. Diese Auseinandersetzung fand in der ungarischen Zeitschrift Magyar Nyelvőr 15 (1886) und im Archiv für slavische Philologie IX (1886) statt. Ásbóth verteidigte im Aprilheft von Magyar Nyelvőr 15 (S. 169-171) seinen Standpunkt, worauf Schuchardt ihm im Juniheft entgegnete ( “karácson”, ebenda, [Brevier/Archiv 190] , S. 299-303,). Unter dem Titel “kračunъ – karačunъ”, im Archiv für slavische Philologie IX (1886, [Brevier/Archiv 189]), S. 293-300 ging Schuchardt nochmals auf diese Frage ein. Ásbóth entgegnete ihm wenig später an gleicher Stelle („Nochmals Kračunъ – koročunъ“ ebenda, S. 694-699).

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Archiv der Petersburger Akademie der Wissenschaften. (Sig. 356)