Johannes Brill an Hugo Schuchardt (01-01374)

von Johannes Brill

an Hugo Schuchardt

Bloemfontein

23. 08. 1882

language Deutsch

Schlagwörter: Dialekte Flexion / Wortformenbildung Kasus (syntaktisch) Sprachkontakt (allgemein) Lexikologie Entlehnung Sprachprobe Sprachpolitik Universitätsbibliothek Graz Die Afrikaanse Patriotlanguage Afrikaanslanguage Niederländischlanguage Niederländisch (Südafrika)language Namalanguage Xhosalanguage Malaiischlanguage Niederländischbasierte Kreolsprachenlanguage Englisch außerhalb Europaslanguage Khoisan-Sprachenlanguage Niederländischbasierte Kreolsprache (Saint Thomas) Südafrika Vries, Matthias de (Hrsg.) (1882–1998) Westphal, Ernst Oswald Johannes (1972) Schuchardt, Hugo (1885) Venter, Herzog (1973) Du Toit, Stephanus J. (Hrsg.) (1880) Du Toit, Stephanus J. (1876) [o. A.] (1882)

Zitiervorschlag: Johannes Brill an Hugo Schuchardt (01-01374). Bloemfontein, 23. 08. 1882. Hrsg. von Johannes Mücke (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1178, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1178.


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Bloemfontein, 23 August 1882.

Hochgeehrter Herr,

Ihr geehrtes Schreiben vom 9 Juli kam mir letzte Woche zur Hand, und, wiewohl ich nicht, wie Prof. de Vries1 Ihnen mittheilte, mit der Abfassung einer Kapholländischen Grammatik beschäftigt bin, so werde ich doch mit Vergnügen Ihrem Verlangen zufolge Ihnen einige allgemeinen [sic] Andeutungen über die holländischen Sprachverhältnisse in Süd-Afrika zukommen lassen.

1° Im ganzen Süd-Afrika wird – mit Ausnahme der gröszern Städte und des östlichen Theils der Kapkolonie und Natals – nur Eine Sprache gesprochen: das sogen. Kap-Holländisch. Wo man nur auf Reisen mit der ländlichen Bevölkerung in Berührung kommt, musz man sich dieser Sprache bedienen. Auch im Verkehr mit den Naturellen2 ist sie das bequemste Verkehrsmittel.

2° Diese Sprache ist überall dieselbe. Es mögen hier und dort kleine dialektischen Eigenthümlichkeiten vorkommen – und z. B. das Holländische wie es in der Umgegend der Kapstadt gesprochen wird mag von der Sprache des Transvaalschen Bauers in einigen Hinsichten verschieden sein – diese Verschiedenheiten sind im allgemeinen genommen ganz unbedeutend und wohin man kommt, wird man ohne Mühe andere verstehen können und selbst von ihnen verstanden werden.

3° Die Sprache is [sic] rein Holländisch, nur in entarteter gramma|2|tischer Form. Weder die Hottentotische3 [sic] noch die Kaffersprache4 hat den geringsten directen Einfluss auf sie gehabt, und dies gilt eben so sehr von den innern Theilen des Landes wie von der unmittelbaren Umgegend der Kapstadt. Von einem indirecten Einflusse der Malaier und der Afrikanischen Naturellen könnte allerdings die Rede sein, in so weit als sie mehr oder weniger zur grammatischen Entartung der Holländischen Sprache mögen mitgewirkt haben, aber solcher Einflusz, obgleich er im allgemeinen anerkannt werden musz, liesze sich schwerlich in Besonderheiten nachweisen. (Das Beispiel das von Ihnen angeführt wird: „zie je voor die paard“5 möchte eher in der allgemeinen Neigung der modernen flexionslosen Sprachen, nun Präpositionen zu gebrauchen, wo die älteren sich mit einem bloszen Casus begnügen, seine Erklärung finden).

Selbstverständlich sind ziemlich viele Wörter, sowohl Malayische wie Hottentotische [sic] und der Kaffersprache entlehnte, in Gebrauch gekommen, die entweder eigenthümliche Indische Speisen und Gewürze, oder einheimische Bäume und Pflanzen bezeichnen, oder sich auf die Kleidung der Naturellen beziehen, aber dergleichen Ausdrücke sind vielmehr wie besondere technische Ausdrücke zu betrachten, wie sie in jeder Sprache vorkommen ohne die Reinheit derselben zu beeinträchtigen.

Den Grund dieser allerdings höchst merkwürdigen Thatsache das [sic] die Sprachen der Eingeborenen so wenig Einflusz auf das Holländische gehabt hätten, suche ich in dem Umstande das [sic] die Bauern die Eingeborenen, gleichwohl ob sie dieselben als Sklaven oder als freie Dienstboten hielten, immer in einer gewissen Entfernung zu halten gewuszt haben. Demzufolge haben denn auch die Hottentotten sehr bald ihre Sprache |3|ganz aufgegeben und weit davon entfernt, dass diese einigen Einflusz auf die Sprache Ihrer Herren gehabt hätte, dieselbe vollständig verloren. Dasz mehr Wörter aus dem Malayischen wie aus den Afrikanischen Sprachen übergenommen worden sind erklärt sich genügend aus dem Umstande, dasz in dem sieben- und achtzehnten Jahrhundert eine enge Verbindung zwischen den Ost-indischen und Afrikanischen Kolonieën stattfand und dasz die Malaien den eigentlichen Sklavenstand in den meisten Familien bildeten.

Obgleich es nicht geleugnet werden kann, dasz wo die Naturellen sich der Holländischen Sprache bedienen, dieselbe äuszerst fehlerhaft gesprochen wird und gewiszermaszen entstellt wird, so hat sich doch, so weit es mir bekannt ist, nirgendwo ein eigentlicher Jargon, dem Negerpatois6 vergleichbar, ausgebildet, welches theilweise aus dem Holländischen, theilweise aus irgend welcher Sprache der Eingeborenen zusammengesetzt wäre. Die Art und Weise der oben erwähnten (meist syntaktischen) Entstellungen ist noch nie zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht worden, und es wird Ihnen, fürchte ich, schwerlich gelingen, Sprachproben eines dergleichen Jargons zu bekommen.

Es ist in den letzten Jahren ein Versuch gemacht worden dem Kapholländischen Dialekt als einer selbständigen Sprache Anerkennung zu verschaffen, und die Herausgabe von „die Patriot“7 ist eine Folge dieser Bewegung. Um Ihnen von dieser Bewegung eine Vorstellung zu geben, erlaube ich mir Ihnen das Schriftchen „Geskiedenis van die Afrikaanse Taalbewegung“8 [sic] zukommen zu lassen, in welchem Sie auch viele Proben der alltäglichen Volkssprache Süd-Afrikas’s finden werden. Das Schriftchen „Eerste Beginsels van die Afrikaanse Taal“9 enhält [sic] wohl nicht viel für Ihre Zwecke, giebt aber eine kurze und klare Darstellung |4|der wenigen noch übrigen Sprachformen. „Die Patriot“ ist die einzige Zeitung in dialektischem Holländisch. Alle übrigen sind entweder in Englisch oder in „Hoch-Holländisch“ wie man das grammatisch geschriebene Holländisch hier nennt. „Die Patriot“ hat aber vielleicht die weiteste Verbreitung über dem ganzen Süd-Afrika.

Hiermit habe ich die Ehre mich in vorzüglicher Hochachtung zu unterschreiben

Ihr ergebener

J. Brill.


1 Matthias de Vries (1820-1892), niederländischer Philologe und Lexikograph (u.a. Begründer und Herausgeber des 43 Bände umfassenden Woordenboek der Nederlandsche Taal, 1882-1998, Ergänzungen 2001), war ebenfalls Korrespondenzpartner Schuchardts. De Vries hatte auf eine Anfrage Schuchardts nach Grammatiken des Afrikaans am 6.7.1882 an Schuchardt geschrieben: „Eine neue und mehr ausgearbeitete Grammatik wird von Herrn Dr. Brill, Professor in Bloemfontein, erwartet, ist aber, so weit ich habe erfahren können, noch nicht erschienen“ (Bibl. Nr. 12553). Schuchardt antwortete am 9.7.1882, er werde „heute noch an Herrn Dr. Brill schreiben“ (Bibl. Nr. 3). Die Briefe von de Vries an Schuchardt werden in der UB Graz aufbewahrt (Nachlass Hugo Schuchardt, Nrn. 12553-12562), die Briefe Schuchardts an de Vries befinden sich der in UB Leiden, Abteilung Bijzondere Collecties, Signatur ms. LTK 1867 unter dem Titel „M. de Vries, Collectanea. - Brieven aan M. de Vries, 1844-1892. - Begeleidende correspondentie“. Der Briefwechsel wurde von Ahlgrimm-Siess & Mücke (2012) ediert und liegt online abrufbar vor.

2 Brill bezeichnet mit diesem Wort vermutlich die Ureinwohner Südafrikas.

3 Der pejorative Begriff „Hottentotten“ wurde in Südafrika als Sammelbezeichnung für die in Südafrika und Namibia lebenden Khoi und San verwendet. Die für das Khoisan-Sprachareal typischen Klick- und Schnalzlaute verglichen die niederländischen Siedler mit Gestotter. Ein Stotterer wird im nördlichen Dialekt des Afrikaans „hottentots“ genannt (Bruwer 1972).

4 Die Bezeichnung „Kaffer“ stammt vom arabischen „kafir“ für „Ungläubiger“ her. Im frühen Afrikaans hatte es abwertende rassistische und möglicherweise auch sprachliche Konnotation. Es wurde verwendet um „swarte caffers“ von „Hottentotten“ zu unterscheiden. Die Engländer verwendeten den Begriff, um auf die ethnische Gruppe der Xhosa zu verweisen. Heute wird die Bezeichnung „Kaffer“ (oder „Kaffir“) im öffentlichen Diskurs durch „Bantu“ ersetzt (Westphal 1972).

5 Mit diesem Beispiel tritt Schuchardt zuvor schon an Matthias de Vries heran (Schuchardt an de Vries am 4.7.1882, Bibl. Nr. 2). Schuchardt scheint es Antoine Changuions Nederduitsche taal in Zuid-Afrika hersteld… (Changuion 1844) entnommen zu haben.

6 Möglicherweise bezieht sich Brill auf die niederländisch basierte Kreolsprache der Antilleninsel St. Thomas. Schuchardt hatte sich mit diesem Vergleich auch an de Vries gewandt hatte. So schreibt er am 19.6.1882 an de Vries mit Bezug auf das Afrikaans: „Besonders käme es mir darauf an, ob man etwa Einfluss afrikanischer Sprachen auf das Kapholländische nachgewiesen hat. Ein flüchtiger Blick hat mich gewisse Ähnlichkeiten mit dem Negerholländischen von S. Thomas finden lassen“ (Bibl. Nr. 1). In seiner Rezension von Nicolaas Mansvelts Proeve van een Kaapsch-Hollandsch Idioticon äußert sich Schuchardt nur zurückhaltend zu einem möglichen Einfluss der Khoisansprachen auf das Afrikaans ( Schuchardt 1885: 499, Brevier-/Archivnr. 180).

7 Die Afrikaanse Patriot (1876-1904) war eine der ersten afrikaanssprachigen Zeitungen in Südafrika. Sie wurde von der Genootskap van Regte Afrikaanders (Gemeinschaft der echten Afrikaner, gegründet 1875 zur Vertretung der Interessen der afrikaanssprachigen Bevölkerung in Südafrika) ab 1878 wöchentlich herausgegeben (Venter 1973).

8 Du Toit (1880). Der Geistliche Stephanus Jacobus Du Toit (1847-1911) war Lehrer, Autor und Politiker. Er war Mitbegründer der Genootskap van Regte Afrikaanders .

9 Du Toit (1876). Eine zweite Auflage erschien 1882 in Paarl im Verlag D. F. du Toit.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 01374)