Matthias de Vries an Hugo Schuchardt (15-12560)

von Matthias de Vries

an Hugo Schuchardt

Leiden

04. 03. 1886

language Deutsch

Schlagwörter: Etymologie Nautische Terminologie Kaiserliche und Königliche Hof-Bibliothek (Wien)language Russisch Kilian, Cornelius (1588) Matham, Adriaan (1866) Witsen, Nicolaas (1671) Veder, (1918) Weel te Hoorn, Gerard (2012) Booch, Friedrich/Frey, Adam (1871) Jal, Augustin (1848)

Zitiervorschlag: Matthias de Vries an Hugo Schuchardt (15-12560). Leiden, 04. 03. 1886. Hrsg. von Jörg Ahlgrimm-Siess und Johannes Mücke (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1093, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1093.

Printedition: Ahlgrimm-Siess, Jörg; Mücke, Johannes (2012): „Ich bin auf der Jagd nach einigen in Holland gedruckten Schriften...“ Der Briefwechsel zwischen Matthias de Vries und Hugo Schuchardt.. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 78., S. 7-61.


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Leiden, 4. März '86.

Verehrtester Herr College,

Gern hätte ich Ihre Karte vom 26 Febr.1 früher beantwortet, könnte aber bei vielerleiBeschäftigungen keinen freien Augenblick herausfinden, um die Sache nochmals ruhig zuüberlegen. Nochmals, sage ich, denn das Wort boegseeren hat mich schonöfters zu eingehenden Untersuchungen veranlasst, leider ohne befriedigenden Erfolg.Und dasselbe habe ich auch jetzt wieder erfahren. Der Ursprung des Wortes bleibt mirdunkel. Die bisherigen Erklärungsversuche haben insgesammt nichts zu bedeuten. Dergeschichtliche Thatbestand ist folgender. Die älteste mir bekannte Erwähnung ist inKilian's Etymologien (1588),2 der boechseerden, boechtseerdendurch remulcotrahere3 übersetzt. Das boecht bei Kil. ist nur etymologische Spielerei(die er ganz besonders liebte), da er boeg als boecht, bocht (B. bucht) erklärte. |2|Also, zu seiner Zeit war die Formboechseerden = boegseerden, das eigentlich unserm boegseerengleich steht. Die auch sonst vor kommende Wechslung zwischen -eerden und -eerenlässt sich leicht erklären. Beide Formen finden Ihre Vermittlung im Part. geboegseerd, dasaber so gut auf -eerden als auf –eeren hinweisen könnte. So entstand nebenboegseerden (das wohl die ältere Form sein wird) die jüngereFormboegseeren, und diese prävalirte natürlich, weil ja die Endung -eeren die gewöhnlichere war in andernWörtern.

Auf Kil. folgt ein Beispiel vom J. 1641, in einer von Ihrem Landsmann Weiland Ferd.von Hellwald4 herausgegebenen Reihe von Matham („Voyage d'Adrien Matham au Maroc, publiépar F. de H.“, La Haye, 1866). Dort heißt es (S. 77): „Soo datons volck genootsaeckt waeren met alle macht te boucheren ons op de zeede te komen.“ Also hier infranzösischer Schreibweise.

N. Witsen5 in seiner klassischen Arbeit („Scheepsbouw enbestier“, 1671) schreibt boegzeren (S.486), das, nur mit älterer Orthographie, völlisch6|3|dasselbe ist als unseres boegseeren. Also in 1671 wardas Wort in der modernen Form schon fertig.

Im „Leben de Ruiter‘s“ aber von G. Brandt7 (1687), der sehr genau die Schiffer-terminologiekannte und anwandte, findet man S. 977 boeghzaarden, und S. 949 boeghchaarden. Dasletztere hat er gewiss nach franz. Art als boegsjaarden ausgesprochen. Merkwürdig dass wir hier das rd wieder begegnen. Die Wechslung zwischenaard, erd en eerd hatnichts zu bedeuten: die ist in unserer Aussprache eine sehr gewöhnliche.

Dieser Thatbestand scheint mir zu erweisen, dass die ältere Form boechseerdenist, das später zu boegseeren ward, in welchem man, eben der Endung -eeren wegen, einen franz. Ausdruck zu sehenmeinte, und darum boucheren, boesjeeren, schrieb. Der romanische Ursprungist aber nicht wahrscheinlich, denn in keiner romanischen Sprache lässt sich dieleiseste Spur eines verwandten Wortes entdecken. Vermuthlich soll also boechseerden germanischen Ursprungs sein.Aber woher?

Das franz. remorquer von remulcum, |4|touer von holl.touw,und port. sirgar von sirga, weckenden Gedanken, ob nicht der Name von einem Worte herrührt, das Kabel, Taubedeutete, weil dort dergleichen Wörter bei verschiedenen Völkern meistens aufdenselben oder ähnlichen Anschauungen beruhen. Es ist mir aber nie etwas vorgekommen,das wie boechsaer oder boechseer lautete und ein Kabel bedeutete. Die eigentliche Bedeutung und derUrsprung des Wortes bleiben mir also dunkel.

Sollte Ihnen vielleicht ein erwünschtes Licht aufgehen, so halte ich mich für diegefällige Mittheilung bestens empfohlen.

Was endlich das von Ihnen genannte russische bečevati̒̌8 betrefft (Jal,Glossaire nautique9, p. 1276, gibt bouksirovate10), es ist wohl nichtzweifelhaft, dass dasselbe, wie überhaupt alle russische Seewörter, dem holländischenentlehnt sei. Die russische Marine ist ganz und gar der holländischen nachgebildet,und die ganze holl. Terminologie vom Czar Peter dem Grossen in sein Reicheingeführt.

Es thut mir leid, Ihnen nur dies wenige und ziemlich ungenügend mittheilen zu können.Aber die Seewörter sind meistens überaus schwer zu erklären.

In grösster Hochachtung und freundschaftlich

Ihr ergebener

M deVries

Eine Form boegsen (ohne - er) ist bei uns ganz unbekannt. Hochd.bugsen ist nur ein scherzhaftesWort.

Die Schreibweise boegseeren mit g zeigt, dass man das Wort an boeg anlehnte. Ob es aber damit wirklichzusammenhängt, scheint mir sehr fraglich.


1 ImNachlass nicht vorhanden.

2 Kilian, Cornelius(1588). Etymologicon TeutonicaeLinguae. Antwerpen.

3 Lat. „navem remulco trahere“ – „ins Schlepptaunehmen“.

4 Der gebürtige Wiener (hier vonde Vries fälschlicherweise als „Landsmann“ Schuchardts bezeichnet) Ferdinand vonHellwald (1813-1884) war Beamter der Wiener Hofbibliothek und später Sekretär desMalteserordens in Rom (MKL, Bd. 8: 362-363, s. v. „Hellwald“). Die Voyage d'Adrien Matham au Maroc,1640–1641 (Matham1866 [ed. Hellwald]) wurde von ihm aufgefunden und veröffentlicht.Eine Widmung, vermutlich an de Vries, findet sich im Einband:„a l’érudit ami des sciences, au profond connaisseur de la langueet de la littérature hollandaise, m. le prof. M. de Vries“.

5 Nicolaas Witsen(1641-1717) war Regent von Amsterdam und Vorsitzender der VOC. SeineArbeit zum Schiffsbau Aeloude enHedendaegsche Scheeps-bouw en Bestier (Witsen1671) diente als Vorlage für die Übertragung niederländischerFachbegriffe ins Russische. Seine technischen und geographischen Arbeiten sind auch heutenoch von etymologischem Interesse (Veder1918).

6 De Vries verwendet hier scheinbar die veraltete Nebenform „völlisch“ von„völlig“, die auch im GWB als „seltene bildung“ bezeichnet wird (GWB, Bd. 26: Sp.679).

7 Geeraerdt Brandt (1626-1685) war niederländischerGeistlicher, Schriftsteller, Kirchen- und Marinehistoriker. Seine Biographie desMarineadmirals Michiel de Ruyter zähltzu den Standardwerken niederländischer Seefahrtsgeschichte (Weel te Hoorn2012).

8 Nach heutigerwissenschaftlicher Transliteration bečevat'. De Vries schreibt – so scheint es –ein Haček über dem Punkt über dem i. Die Form bečevat' ist heute offenbarnicht mehr gebräuchlich, aber es findet sich bečeva(бечева) mit derÜbersetzung „Schlepptau, Zugseil“ in modernen Wörterbüchern. In älterenWörterbüchern finden sich auch Einträge für bečevat' (бечевать), dieeinen nautischen Zusammenhang zeigen (so etwa in Booch & Frey1871 [Bd. 1]: 33, s. v. „anholen“).

9 Jal, Augustin(1848). Glossaire nautique: répertoirepolyglotte de termes de marine anciens et modernes. FirminDidot freres. Paris.

10 Das Wort wird heute transliteriert alsbuksirovat' und bedeutet „im Schlepptau haben“, „bugsieren“. DeVries orientiert sich an der französischen Transliteration des Glossaire nautique (Jal 1848:1276, s. v. „REMORQUE“, 1275-1276).

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